
Was man gewinnt und leicht wieder verliert
“Anything whole can be broken,” Isabelle told her. “And anything broken can be put back together again. That is the meaning of Abracadabra. I create what I speak.”
― Alice Hoffman, The Rules of Magic
Manchmal blitzen Erinnerungen auf, die mir wie aus einem anderen Leben erscheinen. So fern. So unwirklich. Es fällt mir schwer zu glauben, dass ich das wirklich erlebt habe. Mit vielen Erlebnissen in Wien geht es mir so. Oder mit Bled in Slowenien. Auch jüngere Erinnerungen an Ernstbrunn kommen mir inzwischen so vor, als hätte ich nur geträumt.
Wien war so drastisch. Abgründe und Glamour, Armut und Dekadenz, Nostalgie und Moderne. So viel Kriminalität und so viel Kultur. Ich erinnere mich an die Autobombe im Grätzel, den Mann mit der Kettensäge, den Prater, den Wiener Wald, die vielen Originale und die bulgarische Mafia. An Culture Clash, im Guten wie im Schlechten, und an die verrücktesten Bekanntschaften. An das eingefrorene Klo im Winter und an die vielen makabren Details in dieser innen so schönen und außen so hässlichen Stadt.
Dagegen war Bled wie ein von allem Lärm und Übel der modernen Welt übersehenes Märchen, eine Reise in die Vergangenheit, rauh und roh, und der Kaffee war ungenießbar, aber das war egal. Ich sehe die verwunschene Insel mit den tausend Treppenstufen noch vor mir, die Schwanenboote, das Schloss hoch über dem See, und drumherum nichts als Wald, ein Fluss von einem unglaublichen Grün und schneebedeckte Berge. Wie gerne möchte ich dort noch einmal hin, es war viel zu kurz.
Und dann Ernstbrunn. Wolfsküsse. Das Schloss, das von jeder Seite völlig anders aussieht. Rehe, jeden Tag, überall. Ein Uhu auf meinem Kopf, ein Wüstenbussard auf meiner Faust und die federleichte Ohrfeige eines riesigen Gänsegeiers. Eine Geistheilung. Die nächtliche, völlig orientierungslose Fahrt durch einen scheinbar endlosen Wald, und das Handy sagt plötzlich „Willkommen in Tschechien!“. Blaue Flecken und klingelnde Ohren nach dem Perchtenlauf. Der Weihnachtsmarkt im Kellerdorf. Das Auftauchen des rauchspeienden Nostalgiezugs zwischen den verschneiten Hügeln. Der Sternenhimmel über dem Buschberg.
Das alles ist noch nicht so lange her aber wie verschüttet unter der sehr nüchternen Realität meines Hier und Jetzt, in einer Gegend ohne jeden Zauber.
Wenn ich die Monate seit meiner Rückkehr nach Deutschland Revue passieren lasse, kann ich deutlich sehen, wie mich die Magie verlassen hat. Stück für Stück, jeden Tag ein bisschen mehr. Und ich gräme mich und bade in Selbstmitleid deswegen, denn das Leben ist grau und trist ohne sie. Dabei bin ich es doch selbst, die der Magie den Rücken gekehrt hat. Und als sie dann nicht mehr allgegenwärtig und leicht verfügbar war, kam stattdessen die Ernüchterung und machte es sich bequem.
Ich werde sie also wieder heraufbeschwören müssen, die Magie. Ohne einfach nur das Fenster zu öffnen, um die Wölfe heulen zu hören. Hier muss man sich ein bisschen mehr Mühe geben. Abrakadabra.
Danke für das Foto, Stephanie Cotton

