weißer Salbei
Weise Worte

Nur die Wirklichkeit darf alles?

Daniel Kehlmann hat diese Rede über ein Problem gehalten, das ihn spätestens seit dem Jahr 2005 nicht nur philologisch, sondern auch unmittelbar als Künstler betrifft. In dem Jahr ist sein Weltbestseller „Vermessung der Welt“ erschienen, dessen Leseraufkommen er in Marbach „fast unsinnig“ nannte. Er habe ursprünglich einen südamerikanischen Roman schreiben wollen, aber obwohl man in der Kunst alles dürfe, mache man sich in der Regel einfach lächerlich, wenn man über etwas schreibe, das keinerlei Beziehung zu einem selbst habe.
– SZ | Auf Abstand (Daniel Kehlmann über kulturelle Aneignung)


Das Thema kulturelle Aneignung ist allgegenwärtig, und auch ich habe zuletzt vermehrt darüber gelesen und gegrübelt. Ganz konkret aus einem persönlichen Grund. Ich räuchere nämlich immer noch mit weißem Salbei, Palo Santo und Sweetgrass. Zwar habe ich meinen Konsum deutlich eingeschränkt und meine Bezugsquelle geändert, aber das schlechte Gewissen ist da. Eine weiße Europäerin benutzt das heilige Gut amerikanischer Ureinwohner. Das Gut amerikanischer Ureinwohner, die von weißen Europäern unterdrückt wurden.

Natürlich habe ich allerlei Rechtfertigungen parat. Aber zugegebenermaßen spielt auch ein bisschen kindischer Trotz in meine Weigerung hinein, dem geliebten Räucherwerk komplett zu entsagen. Die Wokistanis gehen mir oft genug mit ihrem Fanatismus und ihrer Selbstherrlichkeit auf den Geist. Genau wie in der Genderdebatte halte ich so manches für überzogen und daher wenig konstruktiv. Doch ich merke auch, wie konservativ ich bin. Ich hatte schon einmal angefangen, etwas über kulturelle Aneignung zu schreiben und musste den Post dann verwerfen, weil ich während des Schreibens merkte, wie unstimmig meine Gedanken waren.

Ich ringe immer öfter mit dem Gefühl, dass meine Meinung tabu ist, allein weil ich ein privilegierter Mensch bin. Und ich weiß, dass es vielen so geht. Eigentlich sollte das das beste Zeichen sein, dass sich langsam etwas grundlegend Falsches umzukrempeln beginnt. Alte weiße Männer fühlen sich diskriminiert. Feministinnen (ich gendere tatsächlich immer noch nicht, aber ich bin immer öfter versucht!) bewerfen sich gegenseitig mit faulen Eiern und Schlimmerem, weil man sich über die Definition des Begriffs „Frau“ uneins ist. Ist die aktuelle Wirklichkeit eine Art neues Babel, und wenn ja, ist das gut oder schlecht? Ich finde diesen spürbaren Umbruch jedenfalls grundsätzlich positiv.

Problematisch ist aber, dass im derzeitigen Klima Kunst immer öfter dem Overthinking zum Opfer fällt. Und dass im Zuge der allgemeinen Verrohung, der Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, der Shitstorms, Cancel-Culture und endlosen Debatten in den sozialen Medien viele Menschen und gerade auch Künstler darauf verzichten, den Mund aufzumachen. Das kann man längst nicht mehr nur den Rechten in die Schuhe schieben. Angesichts dessen wird mir ein bisschen übel. Schnell den Salbeistick anzünden.

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