
Missing Lisa
„Nur der Fluss weiß, wohin er fließt.“
– Missing Lisa
Gerade erst hatte ich die vier Lethal White-Folgen der Strike Series geguckt und dachte, jetzt kann mich erstmal keine Miniserie mehr so leicht begeistern. Da entdeckte ich die deutsch-belgische Produktion „Missing Lisa“.
Es geht um eine junge Niederländerin, die auf dem Fernwanderweg von der Nordsee bis ans Mittelmeer verschwunden ist. Niemand weiß, was mit ihr passiert ist. Selbstmord? Mord? Ein Unglück? Fünf Jahre nach ihrem letzten Handysignal in den Vogesen beschließen drei ihrer Jugendfreunde, sich noch einmal auf die Suche zu begeben und Lisas Route nachzuwandern. Einer dieser Freunde, Michiel, ist Dokumentarfilmer und macht aus der Wanderung ein Filmprojekt. Mit dabei sind Zoe, Lisas ehemals beste Freundin und Model, und Ylena, eine weitere Freundin und inzwischen junge Mutter. Später stößt auch Lisas Vater Piet zu der Gruppe, dann Lisas Exfreund Asim, der zwischenzeitlich für den IS in Syrien war. Zeitweise ist auch Lisas Mutter Karen dabei, sowie der französische Ex-Polizist Pol, der damals in Lisas Fall ermittelt hatte.
Ich hatte die erste Folge wahrscheinlich nur begonnen, weil mich der Plot an die kürzlich im Schwarzwald verschollene Tourengeherin Scarlett erinnerte. Und weil ich selbst schonmal daran gedacht hatte, diesen Wanderweg zu gehen, oder wenigstens ein Teilstück des Grand Route 5. Jedenfalls ging ich nicht davon aus, dass mich diese Geschichte so in den Bann schlagen würde.
Was unterwegs alles passiert, was alles ans Licht kommt, mit welchen Lügen und Geheimnissen sich jeder einzelne der Wanderer herumschlägt, die doch alle im Grunde ganz normale Menschen sind, das ist einfach irre. Man denkt, dass die verschwundene Lisa diejenige mit den entscheidenden Problemen ist, schließlich ist sie es, die sich möglicherweise umgebracht hat. Natürlich ist sie eine Art Knotenpunkt des Ganzen, aber letztlich sind alle, die nach ihr suchen, die sie vermissen oder denen sie unterwegs begegnete, Menschen mit unsäglichen, verborgenen Dramen, voller Schuldgefühle und Probleme, die man wahrhaftig nicht als First-World-Problems bezeichnen kann. Es gibt viele Konflikte unterwegs und sogar Tote und Verletzte.
Im Laufe der Reise auf Lisas Spuren kommen ihre Freunde und Eltern öfter mal an den Punkt, an dem sie glauben, zu wissen, was geschah. Nur um später heraus zu finden, dass sie sich getäuscht haben. Oder dass sie getäuscht wurden – von wem auch immer. Was am Ende heraus kommt, möchte ich nicht spoilern, aber es ist bei aller Verdrehtheit durchaus plausibel und realistisch. Denkbar, dass so etwas passiert, in unserem eigenen Umfeld, ohne dass man auch nur das geringste ahnt. Die Wahrheit ist gleichermaßen unbefriedigend wie tröstlich.
Die Serie zeigt – neben vielen tollen Bildern von der Route – sehr schön, was viele vom Pilgern oder Langstreckenwandern berichten: So ein langer, mühsamer aber auch wunderschöner Weg ist eine Art Therapie, sowohl auf persönlicher Ebene für den einzelnen Wanderer als auch in der Gruppendynamik. Alles kommt hoch, bricht auf und verlangt, dass man sich ihm stellt. Und jeder hat das bitter nötig, wirklich jeder. Es gibt sie nicht, die „normalen“ Durchschnittsmenschen ohne irgendeine Relevanz. Die Unbedeutenden oder die scheinbar Sorglosen oder gar die Glückspilze, die mit einem Lächeln durchs Leben gehen, unbehelligt von fatalen Versuchungen oder dem leibhaftig Bösen, das überall lauert. Und zugleich ist das Glück überall, wenn man die Augen nicht verschließt und sich traut, auf die Suche zu gehen.
Danke für das Foto, Vlad Tchomparov

