
Making memories
„Time moves in one direction, memory in another.“
– William Gibson
Was kann man alles mit diesem Zitat anstellen. Es ist so vieldeutig. Und es scheint eine Menge Menschen zum Nachdenken über ihre wichtigsten Erinnerungen anzuregen. Und darüber, welche dieser Erinnerungen sie in irgendeiner Form für die Ewigkeit – oder die Nachwelt – festgehalten haben. In Form eines Fotos, eines Videos oder eines Textes. Und welche Erlebnisse sich „nur“ auf die Netzhaut oder in die Hirnrinde gebrannt haben. Welche davon sich für immer tief eingeprägt haben, und welche etwas Handfestes (wie ein Foto) als Erinnerungskrücke benötigen.
Ich versuche gerade, im Haus meiner Eltern Ordnung zu schaffen, und stoße dabei auf viele Erinnerungsstücke. Ein Tagebuch von mir aus Teenagertagen, das ich nach kurzem Überfliegen entsetzt verbrannt habe. Reiseberichte meiner Mutter von den wenigen Reisen, die sie ohne uns unternommen hat. Einladungskarten für eine Party, die mein Vater in seiner Firma gegeben hat, als ich noch klein war. Stapelweise Lochkarten aus den Anfangszeiten der EDV. Postkarten, die als Lesezeichen in völlig vergilbten Büchern stecken. Ein uralter, mit Sicherheit verschollen geglaubter Impfpass. Und natürlich jede Menge Fotos.
Von mir gibt es Fotos ab meiner Geburt bis zur Einschulung. Dann nichts mehr. Erst als ich selbst fotografiert habe, im Rollstuhl auf der Klassenfahrt nach Berlin, oder später in Griechenland, werde ich wieder sichtbar. Meine Schwester ist vor allem durch ihr künstlerisches Werk und dann durch die Fotos ihrer Kinder gegenwärtig. Von meiner Mutter gibt es noch weniger Fotos als von mir. Meinen Vater sieht man öfter, entweder beim Feiern oder mit den Enkeln.
Was für Erinnerungen möchte man eigentlich schaffen? Welcher Art und in welcher Form? Für sich, aber auch für die Nachwelt? Man hört immer wieder, dass es das ist, worauf es im Leben ankommt: Dass man möglichst viele Erinnerungen schafft. Herausragende Erlebnisse seien das, was am Ende zählt. Reisen, Parties, Abenteuer, private und berufliche Erfolge. Künstler, Wissenschaftler, Politiker können dem sicher mehr hinzufügen. Aber ist ihr Leben deshalb reicher? Macht man als Durchschnittsmensch überhaupt einen Unterschied? Wissentlich und willentlich? Und wenn ja, für wen?
Immerhin steht fest, dass jede noch so kleine Existenz Spuren hinterlässt, manchmal von ganz unverhoffter Relevanz. Doch am Ende sind alle Spuren flüchtig. Bilder verblassen, Speichermedien sind nicht mehr lesbar, Wissen wird überholt, Geschichte neu geschrieben. Fossilien sind wohl das dauerhafteste. Ein Stein erinnert sich am besten an ein Lebewesen. In diesem Haus gibt es neben den allgegenwärtigen Hühnergöttern auch ein paar versteinerte Seeigel. Sie sind schön, aber sie verraten dem Laien nicht besonders viel. Trotzdem verwahrt man sie. Weil sie etwas besonderes sind, selten und sehr faszinierend, wenn man sich ihr Alter zu vergegenwärtigen versucht.
Zu der Zeit, als ich mich noch viel mit dem Transhumanismus beschäftigte, diskutierte ich einmal mit dem CEO der Alcor Life Extension Foundation, die sich mit der Kryostase von Organen, speziell von menschlichen Gehirnen, aber auch von ganzen Lebewesen zum Zweck der späteren „Wiederbelebung“ befasst. Angenommen, man kann bald durch wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt um ein vielfaches länger leben als heute, wie viele besondere Erlebnisse können und wollen wir dann noch speichern? Und für wie lange? Erinnert man sich in seinem 563. Lebensjahr noch an die erste Liebe? Welche Erinnerungen löscht oder überschreibt unser Gehirn, wenn es ein vielfaches mehr zu verarbeiten bekommt als jetzt? Klar wird sich unser Fleischcomputer mit uns weiter entwickeln. Und vielleicht werden wir es sogar bald hinbekommen, Erinnerungen ganz gezielt zu löschen, wie in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“.
Möglicherweise führt uns die menschliche Evolution aber auch zu einer ganz neuen Lebensanschauung, in der es nicht mehr so sehr um das Schaffen von Erinnerungen geht, sondern um volle Konzentration auf den jeweiligen Moment. Um ihn gleich darauf wieder loszulassen. Lernen werden wir dann wie künstliche Intelligenz. Updates, Upgrades, und alles Erlebte ist nur Schall und Rauch. Schwer vorstellbar, so ein Leben, aber wer weiß schon, was uns noch erwartet und welche Vorzüge wir darin entdecken werden.
Danke für das Foto, pine watt

