
König der Schwerter
„Our single greatest task is to discover the story our life is telling. And then own it. It’s your story. Nobody else’s. Don’t let anyone tell it for you or sell it to you or cast you in a role you didn’t create. Don’t cave into to being scripted by truths that aren’t your own or conscripted into someone else’s narrative. Write your own life in your own words in your own way.“
– Rainier Wylde
Vor vielen Jahren war ich einmal verliebt in einen Mann, der die Menschen in seinem Leben wie Schachfiguren benutzte. Ich denke, er spielte gegen sich selbst. Oder mit sich selbst. Schwer zu sagen, wahrscheinlich war es für ihn ein und dasselbe. Die Art, wie er seine Züge machte, ließ an einen Soziopathen denken, oder auch an jemanden mit Asperger-Syndrom. Hochintelligent, allerdings auch gedankenlos und gefühllos, auf jeden Fall rücksichtslos. Obwohl ich sicher bin, dass es größtenteils arglos war.
Wahrscheinlich spielte er seine Spiele seit seiner Kindheit, und die jahrelange Praxis hatte ihn zu einem Meister der Manipulation gemacht. Er scheiterte nur dann, wenn sein Mangel an Empathie dazu führte, dass er das Handeln einer seiner Figuren falsch einschätzte. Doch das waren keine echten Verluste für ihn. Routiniert opferte er Bauern, verlor seltener mal einen Springer oder gar einen Turm. Ohne solche Momente wäre das Spiel ja auch langweilig geworden. Deshalb übertrieb es er manchmal, provozierte, so dass es wenigstens kurz ein bisschen brenzlig wurde.
So verlor er eines Tages seine Königin. Das war ein echter Einschnitt. Doch letztlich war auch das nur ein Spiel gewesen, und es dauerte nicht lange, bis er das Brett neu aufbaute, diesmal darauf bedacht, beim Spielen mehr auf unverfänglichen Spaß anstatt auf Training und Entwicklung seiner Intelligenz zu setzen. Für seine Figuren wurde es dadurch nicht angenehmer, aber vielen von ihnen wurde auch nie bewusst, was vor sich ging. Dass sie nur Rollen im Spiel eines anderen spielten anstatt ihre eigenen Züge zu machen, ihr eigenes Spiel nach ihren eigenen Regeln voran zu treiben und zu genießen.
Ich habe dieses Phänomen nie wieder so klar beobachten können, wie bei diesem Mann. Obwohl es sicher tausendfach so abläuft. Und obwohl es so deutlich war, habe ich mich selbst eine Weile willig in sein Narrativ eingefügt. Nicht lange, aber doch länger als ich aus heutiger Sicht für möglich gehalten hätte. Ich hatte in dieser Zeit eine Menge Spaß, das will ich gar nicht leugnen. Aber es ging in eine völlig falsche Richtung. Und nach solchen Verirrungen braucht man in der Regel erstmal eine Weile, um zurück auf den eigenen Weg zu finden. Verlorene Lebenszeit, verschwendete Energien.
Man verfällt dem Reiz, Teil der Geschichte eines anderen zu sein, am leichtesten, wenn man die eigene Geschichte noch nicht entdeckt hat. Man ist aber stets auf der Suche danach, und wenn man dann auf jemanden stößt, dessen Story ein Bestseller zu sein scheint, dann ist es so bequem und vielversprechend, sich dort hineingleiten zu lassen. Zu einer instrumentalisierten Marionette zu werden, während man überzeugt ist, beteiligt zu sein. Die Versuchung ist umso größer, je kleiner das eigene Selbstbewusstsein ist, denn dann hält man die eigene Geschichte sowieso für belanglos.
So etwas passiert keineswegs nur auf der Ebene persönlicher Beziehungen. Oft sind es auch Unternehmen, Organisationen, Strömungen oder Agenden, mit deren Narrativ man sich zu sehr zu identifizieren beginnt. In der Jugend ist das normal – so lange es als praktische Übung betrachtet werden kann und nicht allzu spät ein Ende hat. Aber als erwachsener Mensch darf man nie vergessen, dass jeder von uns – wirklich jeder – dafür ausgelegt ist, der Held seiner eigenen coolen Story zu sein. Diese Stories helfen anderen, oft ohne dass man es je erfährt. Wie das zufällige, aber ehrliche Lächeln einer völlig fremden Person, das jemanden davon abhält, von einer Brücke zu springen.

