
Farbenlehre für Wanderer
Trägst du gelb, gehst du von dieser Welt.
Trägst du rot, bist du tot.
Schlesisches Sprichwort
Wenn es um die angemessene Kleidung für Wandertouren geht, kann man sich über die Sinnhaftigkeit der richtigen Farbe streiten. Natürlich bietet es sich für einen Jagdausflug oder eine Bushcraft-Unternehmung an, in gedeckten Farben unterwegs zu sein, um Mensch und Tier nicht gleich ins Auge zu springen. Dem normalen Spaziergänger wird zumindest von Frühjahr bis Herbst empfohlen, etwas Helles zu tragen, weil man Zecken darauf schneller entdeckt. Aber davon abgesehen hätte ich gedacht, dass die Farbe der gewählten Kleidung eher eine Frage des persönlichen Geschmacks oder gar der Mode wäre. Nach genauerer Überlegung würde ich wahrscheinlich empfehlen, etwas farblich Auffallendes zu tragen, falls man eine nicht ganz ungefährliche Route wählt. Damit man im Zweifelsfall leichter gefunden wird. Ebenso fände ich es sinnvoll, Kindern etwas in einer leuchtenden Farbe anzuziehen, wenn man mit ihnen in den Wald geht.
Beim Mythen Metzger habe ich allerdings erfahren, dass man auf gelbe, rote oder auch orange Kleidung besser verzichtet, wenn man das Schicksal nicht unnötig herausfordern möchte. Dieses ungeschriebene und mir zuvor völlig unbekannte Gesetz gilt zumindest für die Wildnis, wie man sie bei uns in Europa kaum noch findet. Im Stadtwald braucht man sich also keine Gedanken über die Farbe seiner Kleidung zu machen. Aber in den Wäldern Lapplands oder Montenegros sollte man vielleicht doch überlegen, ob man die gelbe Regenjacke wirklich mitnehmen möchte.
Klingt idiotisch? Statistiken der US-amerikanischen und kanadischen Nationalparks sagen etwas anderes. Ebenso wie viele indigene Völker überall auf der Welt. In der Wildnis Gelb zu tragen scheint bei überraschend vielen traditionell tabu zu sein. In Indonesien hält man sich ebenso daran wie am Amazonas, bei den Aborigines in Australien, bei den Samen im hohen Norden Skandinaviens und auch bei einigen Stämmen der amerikanischen Ureinwohner. Die Warnungen vor gelber Kleidung beziehen sich dabei explizit auf die Gefahr des spurlosen Verschwindens. Tödliche Unfälle, Raubtierangriffe oder offensichtliche Gewaltverbrechen sind ein anderes Thema.
Rotes Kleidchen, totes Maidchen
Schlesisches Sprichwort
Mit Todesfällen ist rote Kleidung verknüpft. Das hat mich weniger überrascht. Dass speziell rotgekleidete Mädchen oder Frauen häufiger Gewaltverbrechen zum Opfer fallen, ist kein Mythos oder Märchen sondern kriminalstatistisch belegt. Rot ist eben auffallend und kann laut Farbenlehre eine herausfordernde Wirkung haben. Das hat schon Goethe behauptet, und die moderne Sozialpsychologie gibt ihm Recht. Doch was ist mit Gelb, dieser Farbe von Optimismus und Wärme? Wieso sollte man ausgerechnet in gut sichtbarem Gelb unauffindbar werden?
Ich war lange der festen Überzeugung, dass Menschen, die in der Wildnis verschwinden, einem Bären, einem Puma, einem Felssturz oder reißenden Flüssen zum Opfer gefallen sein müssten. Zumindest gehörte ich zu denjenigen, die ein Verschwinden in der Wildnis für relativ leicht erklärbar und wenig mysteriös hielten. Da, wo es unwegsames Gelände, Höhlen, Felsspalten und große Prädatoren (Menschen sind mit gemeint) gibt, ist es doch relativ einfach, nicht mehr gefunden zu werden, oder?
Inzwischen weiß ich allerdings, dass wirklich spurloses Verschwinden heutzutage nicht mehr ganz so leicht ist, wie man meinen könnte. Die moderne Technik und Forensik sowie die Kompetenz von Fährtenlesern und Suchmannschaften sind in ihrer Kombination unglaublich gut geworden. Trotzdem lösen sich Menschen in der Wildnis scheinbar in Luft auf. Samt teilsynthetischer Kleidung und Gepäck. Und unverhältnismäßig oft war irgendetwas davon gelb. Auch Jahre später taucht nichts davon wieder auf.
Ich frage mich, wieso das noch kein Horrorfilm aufgegriffen hat. Vor meinem inneren Auge sehe ich etwas unfassbar Böses aus grauer Vorzeit in düsteren Wäldern lauern, das sich bevorzugt auf alles fröhlich Gelbe stürzt, um sich von dessen Heiterkeit zu ernähren.
Danke für das Foto, Madara Parma

