
Die Mitternachtsbibliothek
„Wer zu lange an einem Ort verweilt, vergisst die riesige Ausdehnung der Erde. Er verliert das Gefühl für die Dimension der Längen- und Breitengrade. So wie es wohl auch schwierig ist, ein Gefühl für die ungeheuren Dimensionen innerhalb des menschlichen Bewusstseins zu entwickeln. Spürt man diese Dimensionen jedoch, nachdem sie einem offenbart wurden, keimt Hoffnung auf, ob man will oder nicht, und haftet so hartnäckig am Menschen wie Flechten an einem Felsen.“
– Matt Haig | Die Mitternachtsbibliothek
Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig gehört zu den Büchern, die ich nach langer Weigerung schließlich doch gelesen habe. Ich fand die Plot-Idee schön, aber viele Rezensionen bestätigten meine Befürchtung, dass das Buch ein bisschen zu vorhersehbar und reich an Plattitüden sei. Nach der Lektüre kann ich sagen, ja, das ist auch wirklich so. Allerdings ist Die Mitternachtsbibliothek auch überraschend wissenschaftlich und reich an Philosophie der überhaupt nicht abgedroschenen Art. Außerdem ist dieses Buch viel spannender und kurzweiliger, als ich erwartet habe. Ich empfehle es vor allem Menschen, die zu Depressionen neigen oder in einer Krise stecken. Man sollte aber mehrere Packungen Taschentücher parat halten, wenn man es liest.
Die Protagonistin, eine Mittdreißigerin namens Nora, hat beschlossen ihr Leben zu beenden und kombiniert eine Überdosis ihres Antidepressivums mit reichlich Alkohol. Danach landet sie in der Mitternachtsbibliothek, einer Art Zwischenstation zwischen Leben und Tod. Diese Bibliothek ist riesig und voller mehr oder weniger dicker Bücher. Jedes dieser Bücher enthält ein Leben, das Nora hätte führen können. Oder das sie noch führen könnte. Einen Lebensweg, den sie hätte einschlagen können, an früheren oder auch späteren Abzweigungen ihres „Ursprungslebens“. Einen möglichen Lebensweg, der ihr immer noch offen steht.
Nora ist erst sauer, dass sie nicht schon tot ist und offensichtlich sogar als Selbstmörderin gescheitert ist. Doch die Bibliothekarin überzeugt sie, das eine oder andere Leben wenigstens kurz „anzuprobieren“. Es ist schnell klar, dass jedes von Noras potenziellen Leben Vor- und Nachteile im Gepäck hat. Glück und Schmerz. Tod und Teufel. Es sind viele lange und kurze Kostproben nötig, bis Nora ein Leben entdeckt, in dem sie sich wohl fühlt. In dem sie ohne Antidepressiva auskommt, Sinnhaftigkeit, Erfüllung und Liebe findet. An dieser Stelle muss ich sagen, dass der Autor hier wirklich kreativ war und es geschafft hat, bei aller Vorhersehbarkeit der letztlichen „Moral von der Geschicht“ mit echten Überraschungen aufzuwarten. Es gibt ein paar mehr Denkanstöße als erwartet, und einige davon fand ich wirklich wertvoll. Noras Geschichte endet auch ein klein wenig anders als antizipiert.
Was ich etwas schade fand, ist die Wahl der Protagonistin. Nora ist eine Person, der tatsächlich unendlich viele Wege offen stehen. Überdurchschnittlicher IQ, künstlerische Hochbegabungen, eine sportlerische Eignung, die zur Olympiade führen könnte. Ein normaler Mensch wäre meiner Meinung nach reizvoller gewesen. Obwohl mir natürlich klar ist, dass es für die Auslotung sehr unterschiedlicher Lebenswege notwendig war, mit einem Ausnahmepotenzial zu arbeiten.
Außerdem hat mich noch etwas anderes gestört: Es wird mehrfach suggeriert, dass eine Frau Kinder haben muss, um glücklich sein zu können. Mal davon abgesehen, dass ich diese Aussage grundsätzlich gewagt finde: Aus dem Mund (oder der Tastatur) eines Mannes halte ich sie für ganz schön anmaßend.
Aber wie gesagt, insgesamt eine Leseempfehlung. Vier von fünf Sternen würde ich sagen. Ich habe die Lektüre jedenfalls nicht bereut, sondern bin froh, sie nachgeholt zu haben.

