Ernst der Lage
Weise Worte

Der Ernst der Lage

Oh but I saw a ghost
In the mirror coming near
A little close for comfort tonight
He said
„It’s easier to be alive
Than hide under your pillow
While your life is passing you by“

Travis – A ghost

Bei einem Telefonat mit einer Freundin sprachen wir über die gesundheitlichen Talfahrten unserer Eltern, die sehr viel früher und brutaler als erwartet eingesetzt hatten. Und wir kamen angesichts dieser Ernüchterungen nicht umhin, mit unseren Illusionen über die Zeit aufzuräumen, die uns selbst vielleicht noch bleibt. Ich erzählte, dass meine Schwester, die nur geringfügig älter ist als ich und eine mittlerweile erwachsene Tochter hat, neulich zu mir meinte, dass sie in ungefähr derselben Zeit, die seit der Geburt ihrer Tochter vergangen sei, in einem ähnlichen Zustand wie meine Mutter jetzt sein könnte. Und das kommt ihr beängstigend kurz vor.

Meine Freundin sagte dann: „Ja, genau! Wenn ich Genetik und so weiter berücksichtige und die Jahre ganz am Schluss abziehe, die wahrscheinlich von Demenz oder sonst was ruiniert sein werden, habe ich vielleicht noch 25 Jahre. Wenn es gut läuft und nicht noch was anderes dazwischen kommt. Das Klima, Krebs, ein Unfall, der große Knall. Das heißt, mit Glück, wirklich viel Glück, habe ich noch 25 Mal Sommer.“ Weil ich im Gegensatz zu ihr gerne auf den Sommer verzichten kann, erwiderte ich: „Oder noch 25 Mal Weihnachten!“

Wir sind beide perplex, weil das wirklich nach verdammt wenig klingt. Meine Freundin, die erstaunlich optimistisch sein kann, gratuliert uns aber umgehend und voller Inbrunst dazu, dass wir „den Ernst der Lage erkannt“ hätten und erzählt mir dann noch etwas von einer Milchflasche mit 25 großen Schlucken Milch (sie liebt offenbar Milch), von der wir früher noch überhaupt nichts geahnt hätten. („Diese Flasche war vor fünf Jahren noch nicht einmal in Sicht!“) Ich bemühe mich, dieses Bild auf Waldmeisterlikör oder einen Becher Häagen Dasz zu übertragen, was nur so halb funktioniert. 25 Mal Weihnachten. Mir wird bewusst, dass ich Weihnachten in den letzten Jahren oft geschludert habe. Letztes Jahr ist es sogar ganz an mir vorbei gegangen, weil mein Hund an Heiligabend notoperiert werden musste. Ich verspreche mir, dieses Jahr zu feiern. Komme, was wolle.