
Das andere Lesen: Spurenlesen
„A feather is a letter from a bird
And it says…
Think of me
Do not forget me
Remember me always
Remember me forever
Or remember me at least
Until the feather is lost“
– Beatrice Schenk de Regniers
Wie die meisten Menschen habe auch ich vor allem an Abdrücke von Füßen, Hufen, Pfoten, Tatzen und Krallen gedacht, wenn jemand vom Spurenlesen oder Fährtenlesen in der Natur sprach. Obwohl ich als Western-geprägtes Kind der Siebzger auch Scout-Klischees kannte und wusste, dass Dinge wie abgeknickte Zweige ebenso zu den wichtigen Hinweisen zählen, wenn man in der Natur lesen wollte wie in einem Buch.
Denn so ist es tatsächlich. Die Natur ist wie eine unendliche Bibliothek voller Geschichten, und ihre Sprache ist – so wie die Mathematik – universell, kennt aber viel diversere Buchstaben und Worte. Neben den verschiedenen Trittsiegeln (und Trittmustern) gehört so viel mehr dazu. Federn. Schneckenhäuser. Fossilien. Knochen. Kot, Fraßspuren und Gewölle. Fellbüschel oder bestimmte Abriebmuster an Baumrinden. So banale Hinweise wie Maulwurfshügel oder aufgescharrtes Laub. Abgelöste Moosbüschel. Fast verflogene Gerüche oder noch nicht ganz verklungene Vogelstimmen.
So wie die Polizei längst nicht mehr nur aus Fingerabdrücken und Blutflecken einen Krimi rekonstruiert, arbeiten Spezialisten heute mit viel komplexeren Spuren wie DNA, Fliegenlarven oder digitalen Hinweisen, um eine verborgene Geschichte ans Licht zu bringen.
Spuren- oder Fährtenlesen ist mindestens genauso spannend und auch ebenso aufwändig. Es erfordert eine Menge Wissen und Erfahrung. Man beginnt wie ein Kind mit simplen Bilderbüchern und erweitert dann seinen Wortschatz und seine sprachlichen Fähigkeiten Schritt für Schritt weiter. Und dann entscheidet man selbst, ob man einfach nur die täglichen Regionalnachrichten lesen möchte oder Heftchenromane, russische Klassiker oder blutrünstige Thriller. Natürlich ist es eine Frage der individuellen Neigungen. Manch einer hat mit Lesen eben auch überhaupt nichts am Hut, findet es langweilig, zeitraubend und uncool. Jede Leserratte würde indes behaupten: Er verpasst was.
Und ich gehe mit dem Vergleich noch ein bisschen weiter: So wie zahlreiche Studien belegen, dass Lesen (und auch Vorlesen) bereits in der Kindheit wichtig für die kognitive Entwicklung ist, die Vorstellungskraft fördert, Stress mindert und noch zahlreiche andere für das Leben nützliche Vorteile bietet, ist auch das Spurenlesen weit mehr als ein angenehmer Zeitvertreib. Es schult ein grundlegendes Verständnis für das eigene Umfeld, die Natur und die Umwelt sowie die Zusammenhänge eines „größeren Ganzen“. Es schärft die Konzentrationsfähigkeit und den Blick fürs Detail. Es trainiert das eigenständige Sammeln, Ordnen, Bewerten und Verknüpfen von Informationen.
Diese Fähigkeiten kann man sich selbstverständlich auch anders aneignen. Aber wenig ist praxisorientierter, spielerischer und wie gesagt: spannender.
Danke für das Foto, Clever Visuals

