Grimoire

Wunder im Dunkeln

Momentan leide ich nicht nur unter Zeitmangel, sondern auch an einer Post-Holiday-Depression. Ich bin müde, antriebslos und uninspiriert. Die Tage scheinen eintönig grau. Aber heute ist mir ganz überraschend etwas Tolles passiert. Ich habe für die Nachmittags-Gassirunde zum ersten Mal seit Kindertagen meinen Grundschulweg eingeschlagen. Die Schule lag damals am anderen Ende des Ortes und wurde schon vor vielen Jahren geschlossen. Ich war neugierig, wie sich die Umgebung verändert hat und auch darauf, wie sich diese kleine Zeitreise anfühlen würde.

Vieles auf dem Weg wirkt auf mich nahezu unverändert, mal abgesehen davon, dass mir natürlich alles kleiner erscheint, auch die Entfernungen. Nur das frühere Kinderheim ist jetzt deutlich größer, ein Komplex moderner Gebäude, wo früher eine tristes, düsteres Haus stand.

Als ich auf die Straße einbiege, in der sich früher rechter Hand meine Grundschule befand, sehe ich links über den Dächern der mittlerweile ein wenig schäbig aussehenden 60er- und 70er-Jahre Einfamilienhäuser etwas aufragen, an das ich mich zuerst gar nicht erinnern kann: das Dach eines breiten, niedrigen Turms. Doch dann kommt die Erinnerung langsam wieder: Es ist eine flügellose, alte Mühle.

Ich verwerfe den Plan, das Gelände meiner Schule zu inspizieren und wende mich Richtung Mühle, um ein Foto zu machen. Ich habe gerade mein Handy zum fotografieren erhoben, da sagt hinter mir jemand: „Das macht einen Euro!“ Ich drehe mich um und sehe einen langhaarigen Freak in einem alten Geländewagen mit einem Anhänger voller Grünzeug. Er grinst ein bisschen überheblich, und ich grinse ein bisschen verlegen, weil ich weiß, dass man manche Gebäude nicht fotografieren darf. Eigentlich kann ich mir aber nicht vorstellen kann, dass der Typ hier was zu sagen hat. Die Mühle ist, soweit ich sehen kann, in perfektem Zustand und entweder fest in Beamtenhand oder in den manikürten Griffeln eines Millionärs.

Ich warte, bis der Scherzkeks um die Ecke gebogen ist und gehe dann langsam hinterher, um eine Aufnahme von der anderen Seite zu ergattern, sobald die Luft rein ist. Aber das kann ich mir gleich wieder abschminken. Denn wie ich sehe, manövriert der langhaarige Hippie gerade seine alte Möhre samt Anhänger in die Einfahrt der Mühle. Und er hat mich auch schon wieder im Blick, denn er winkt wie wild. Dann steigt er aus und kommt auf mich zu.

Mein Hund ist wie immer ein Verräter und startet sofort mit der überschwänglichen Kontaktaufnahme. Der Mann tickt offenbar genau wie der Hund, ergreift ohne Umstände meine Hand, schüttelt sie und stellt sich vor. Ich kann mir den Namen nicht merken, wie immer, wenn ich derart überfahren werde. Ich höre mich selbst meinen Namen sagen, und schon dirigiert der Mann mich an seinem Wagen vorbei in den Garten der Mühle. Er erzählt etwas von „Oase“ und „Ayurveda“ und Hühnern, und ich kann nur denken, dass ich keinem Fremden auf ein völlig uneinsehbares Grundstück folgen sollte. Aber ich bin wie geflasht von den Eindrücken, die auf mich einstürzen. Ich habe den unteren Teil der Mühle selbst als Kind nie zu sehen bekommen. Er ist überraschend groß. Eine Art runder Bungalow mit vielen Erkern und Fenstern zieht sich um den Turm herum, und der Garten ist ein kleines Wunderland voller seltsamer Skulpturen und alter Bäume, die zum Teil aus Asien stammen, wenn ich mich nicht irre.

Mir steht der Mund offen, der Mann zeigt mir das Grundgerüst einer im Bau befindlichen Sauna, verwinkelte Wege und Veranden, Hochbeete, die himmlisch duften, und Pflanzen, die ich noch nie gesehen habe. Zwischendurch erhasche ich einen Blick in die Fenster. Drinnen stehen verrückte Möbel in bunten Farben, die mich an das Hundertwasser-Haus in Wien erinnern. Am liebsten würde ich auch in die Mühle hinein gehen, aber ich bin ja nicht völlig bescheuert, und ich werde auch nicht eingeladen, jedenfalls nicht jetzt. Erst nach einer kompletten Runde über das Gelände, bei der ich mir ein paar indiskrete Fragen nicht verkneifen kann („Haben Sie im Lotto gewonnen?“„So ähnlich!“; „Sind Sie Künstler?“„Nein, ich erlaube mir nur zu leben.“), erhalte ich eine Einladung zum Kaffee, die mir aber zu floskelhaft vorkommt, als dass ich sie tatsächlich irgendwann wahrnehmen würde.

Auf dem Heimweg habe ich das Gefühl, in ein Kaninchenloch gefallen zu sein. Es ist viel mehr Zeit vergangen, als ich dachte, aber ich habe trotzdem kaum Informationen über den komischen Kauz, der mich eben herum geführt hat. Wie ist der bloß an die Mühle gekommen? Er wirkte wie einer dieser Alternativen, die einen Haufen Lebenszeit auf Rucksack-Reisen, in Ashrams oder an thailändischen Stränden verbracht haben. Weise, weltgewandt, aber nicht übermäßig interessiert an weltlichen Gütern, schon gar nicht an hochpreisigen Immobilien in unattraktiver Lage.

Zuhause, vor dem Computer, brauche ich lange, um ihm auf die Spur zu kommen. Weil die Puzzleteile so spärlich sind wie nur bei ganz wenigen Leuten, denen das Internet völlig schnuppe zu sein scheint. Und wohl auch, weil mich meine Vorurteile und Schubladen blind machen. Er ist Unternehmer, einer vom guten alten Schlag, solide, seriös, in einer ebenso soliden und seriösen Branche, die von absoluter Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit lebt. Er hat in den 80ern ganz klein angefangen und seitdem ein kleines Imperium aufgebaut.

Jetzt, da ich ihn am Wickel habe, finde ich doch eine ganze Menge im Netz: Patente, Interviews, Youtube-Videos. Dinge, die ich nicht mit der Person überein bekomme, die mir heute eine Surprise-Führung durch ein gut verstecktes Wunderland inmitten einer faden Spießergegend gegeben hat. Ich habe wieder einmal etwas gelernt, über meine dämliche Engstirnigkeit, meine Klischeegläubigkeit und vor allem mein einseitiges Denken. Menschen haben schließlich viele Seiten, manchmal so hell und dunkel wie der Mond. Und Überraschungen lauern an den unwahrscheinlichsten Orten. In Zeiten, in denen man sie am wenigsten erwartet, aber am meisten brauchen kann.

Breuer Mühle