Wolfsmilch
Grimoire

Wolfsmilch

Heute habe ich etwas getan, das ich lange prokrastiniert hatte. Weil ich erstens ahnte, dass es ein größeres Unterfangen werden würde und zweitens keine Ahnung hatte, wie ich die Sache schmerzfrei über die Bühne bringen könnte.

Im Arbeitszimmer meines Vaters stand nämlich ein Kaktus der Gattung Euphorbia trigona, landläufig bekannt als dreikantige Wolfsmilch. Wer jetzt kein Bild vor Augen hat, denke bitte an einen kompakten Wald langer, dünner, behaarter Arme, wobei die Haare feine Stacheln mit Widerhaken sind. Diesen Kaktus hatte mein Vater vor vielen Jahren als Ableger von seiner Schwester geschenkt bekommen. Und inzwischen reichte das Ding bis unter die Decke. Einen beachtlichen Umfang hatte es auch, von seinem Gewicht ganz zu schweigen. Der Topf, in dem es stand, war vergleichsweise winzig, ein Indiz dafür, dass auch mein Vater sich schon seit Jahren um ein Umtopfen gedrückt hatte.

Dieser Kaktus war vor ein paar Wochen schon einmal umgekippt, als ich das Arbeitszimmer geputzt habe. Zum Glück verhinderte ein Arbeitssessel, dass er ganz umfiel. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn damals wieder aufgerichtet habe. Es waren mehrere Handtücher, Lederhandschuhe und ein Regenponcho im Spiel, und ganz unbeschadet sind weder der Kaktus noch ich davon gekommen. Wegen dieses Vorfalls hatte ich nur noch vehementer verdrängt, was längst überfällig war: Der Kaktus brauchte einen neuen Platz, zu seinem eigenen Besten und zu dem eines Jeden, der das Arbeitszimmer betrat.

Ich war unschlüssig, ob er den Sommer über auf den Balkon umziehen sollte, oder ob er ganz verschwinden müsste. Wenn er auf den Balkon käme, hätte ich im Herbst erneut das Problem, ihn bewegen zu müssen. Entsorgen wollte ich ihn aber auch nicht. Er war immerhin ein besonderer Besitz meines Vaters gewesen. Und außerdem ist so eine Pflanze ja auch ein Lebewesen, in diesem Fall zudem noch eines, das schon lange beharrlich um sein Leben kämpfte. Und dann hatte mir auch noch eine Freundin erzählt, dass große Kakteen hohe Preise auf ebay erzielen. Es standen also verschiedene Optionen zur Wahl. Aber egal für was ich mich entschied, ich würde das Monstrum bewegen müssen. Und sobald ich das tat, würde es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umkippen. Möglicherweise auf mich drauf.

Um es kurz zu machen: Die dreikantige Wolfsmilch steht jetzt in deutlich geschrumpfter Form auf dem Balkon. Das Arbeitszimmer sieht im Moment noch aus wie ein Schlachtfeld, aber ich brauchte nach gut zweistündigem Kampf voller furchteinflößender Momente erstmal eine Pause. Ich musste den Kaktus stutzen, leider sogar ziemlich brutal, sonst hätte ich ihn gar nicht aus dem Zimmer bekommen. Das arme Ding hat ordentlich geblutet, was mir fast das Herz zerriss. Was ich allerdings erst jetzt weiß, weil ich die Pflanze gegoogelt habe: Der weiße Pflanzensaft, dem diese Gattung ihren Namen verdankt, ist viel übler als die drölfzig Millionen Stacheln, vor denen ich mich so gefürchtet habe. Er bewirkt Schwellungen, brennenden Ausschlag, heftige allergische Reaktionen und noch fiesere Sachen, sollte man das Pech haben, dass Mund, Nase oder Augen mit der milchigen Flüssigkeit in Kontakt kommen.

Hätte ich das vorher gewusst, dann stünde der Kaktus immer noch im Arbeitszimmer, ausgehungert und extrem wackelig, aber ohne offene Wunden. Das Entsorgen der vielen Pflanzenteile, die im Moment noch im Arbeitszimmer verstreut liegen, werde ich mit zusätzlichem Respekt erledigen. Obwohl das Blut inzwischen geronnen sein dürfte. Für den Kaktus hoffe ich, dass er die Aktion gut verkraftet und seinen neuen Platz an der Sonne genießt. So bald möchte ich mich ihm nämlich nicht wieder nähern müssen.

Danke für das Foto, Fritz Geller-Grimm (CC BY-SA 3.0)