Der Gesang der Flusskrebse
Grimoire

White Trash Beautiful

Und wieder bin ich mit einem Buch late to the party. Der Gesang der Flusskrebse („Where the crawdads sing“) von Delia Owens ist im amerikanischen Original schon vor drei Jahren erschienen und war letztes Jahr über viele Monate auf den deutschen Bestsellerlisten.

Ich habe es trotzdem lange ignoriert, weil ich mit der Inhaltsangabe überhaupt nichts anfangen konnte. Irgendwas mit einem verwahrlosten, kleinen Mädchen aus den Südstaaten-Sümpfen, die – natürlich – aufgrund ihres Außenseiter-Daseins sofort unter Verdacht gerät, als der allseits beliebte Sohn der angesehensten Familie am Platz stirbt. Klischee-Alarm, dachte ich. Aber steter Tropfen höhlt den Stein, und als zuletzt jemand, dessen Meinung ich nicht einfach übergehen konnte, das Buch gefeiert hat, landete es nun doch auf meinem Kindle. Was soll ich sagen? Ich habe es innerhalb von zwei Tagen praktisch inhaliert.

Falls es jemand tatsächlich noch nicht kennen sollte (Achtung, Spoiler!): Es geht um Kya Clark, das Nesthäkchen einer verarmten Familie mit gewalttätigem Vater, die in einer Hütte im Marschland North Carolinas haust. Zuerst nimmt die Mutter Reißaus, dann nacheinander Kyas Geschwister. Das gerade mal sieben Jahre alte Mädchen bleibt mit dem brutalen, unberechenbaren Vater zurück, und selbst der lässt sie oft tagelang allein. Bis auch er nie wieder auftaucht.

Geprägt vom Trauma der Gewalt, Vernachlässigung und Einsamkeit und abgestempelt als Gesindel grenzt es an ein Wunder, dass Kya in der Wildnis überlebt. Aber sie ist zäh. Ihr Lebenswille nährt sich aus der kindlich-naiven Hoffnung auf die Rückkehr ihrer Mutter, einer tiefen Verbindung mit den Geschöpfen der Natur und der verhaltenen Unterstützung des schwarzen Bootstankstellenbetreibers Jumpin‘ und seiner Frau.

Als Kya ungefähr zehn Jahre alt ist, schafft es der etwas ältere Tate, sich dem scheuen Mädchen anzunähern, weil er ihr Schicksal kennt und ihre Liebe zur Natur des Marschlandes teilt. Er bringt Kya Lesen und Schreiben bei, weckt ihr Interesse für die Poesie, vermittelt ihr die Grundzüge der Biologie, schenkt ihr Malutensilien und legt damit den Grundstein für ihren späteren Erfolg als Autorin und Illustratorin von biologischen Fachbüchern.


Das erste Wort war Manche, und sie musste wieder im Alphabet nachsehen und den Klang jedes Buchstabens üben, aber er war geduldig, erklärte ihr die besondere Aussprache von ch, und als sie es endlich laut las, riss sie die Arme hoch und lachte. Er strahlte sie an. Langsam enträtselte sie jedes Wort des Satzes:
Manche Menschen können ohne wilde Dinge leben, und manche können das nicht.
„Oh“, sagte sie. „Oh.“
„Du kannst lesen, Kya. Es wird nie wieder eine Zeit geben, in der du nicht lesen kannst.“
„Das isses nich allein.“ Sie flüsterte beinahe. „Ich hab nich gedacht, dass Wörter so viel meinen können. Ich hab nich gewusst, dass ein Satz so voll sein kann.“
Er lächelte. „Das ist aber auch ein sehr guter Satz. Nicht alle Worte sagen so viel.“


Die beiden scheinen füreinander geschaffen, und als Kya zum Teenager wird, entspinnt sich eine zarte Romanze. Aber sie sind noch sehr jung, und das Marschmädchen, wie die Menschen in der Stadt Kya nennen, lebt immer noch im gesellschaftlichen Abseits. Als Tate wegzieht um zu studieren, ist Kya fünfzehn. Er verspricht, sie regelmäßig zu besuchen. Aber als er in sein neues, akademisches Umfeld eintaucht, erscheint ihm die Kluft zwischen ihren Leben unüberwindbar. Und so kommt auch Tate einfach nicht wieder zu Kya zurück.

An diesem Punkt verschließt Kya ihr Herz endgültig. Nichtsdestotrotz wird sie immer hübscher, und viele junge Männer aus der Stadt sind fasziniert von der mysteriösen jungen Frau aus der Marsch. Weil sie einsam ist und sich nichts sehnlicher wünscht, als irgendwann akzeptiert zu werden, lässt sie sich auf eine Affäre mit Chase ein, dem begehrtesten Junggesellen der Stadt. Allerdings heiratet der Vorzeige-Quarterback am Ende natürlich doch eine Prom-Queen, was Kya nur durch Zufall aus der Lokalzeitung erfährt. Sie bricht die Beziehung ab – sehr zu Chases Ärger. Als er viele Monate später zu Tode kommt und ein Verbrechen nicht ausgeschlossen werden kann, fällt der Verdacht prompt auf Kya.

Obwohl sie längst nicht mehr so unzivilisiert lebt wie früher, ist Kya doch immer noch ein Fremdkörper in der Gesellschaft, ein Misfit, und man zerrt sie unter Androhung der Todesstrafe vor Gericht. Der Prozess nimmt im Buch nur einen kleinen Teil ein, aber ich fand die Spannung fast unerträglich. Der Leser sympathisiert mit Kya und tendiert dazu, sie für unschuldig zu halten, während man sie in der Stadt, wo Voreingenommenheit und Sensationslust auf nahrhaften Boden fallen, für schuldig hält. Kyas Gedanken während der Untersuchungshaft lesen sich wie ein komprimiertes Echo ihres tragischen jungen Lebens. Sie hat nur wenige Fürsprecher, aber Glück mit ihrem Verteidiger und wird wider Erwarten freigesprochen. Chases Tod wird als Unfall zu den Akten gelegt.

Das Urteil darf man als offiziellen Wendepunkt in Kyas Leben betrachten. Sie kann fortan unbehelligt in der Marsch, ihrem „happy place“, leben, weiter biologische Fachbücher verfassen, und bekommt dank ihres wieder aufgetauchten Bruders Jordie sogar einen festen Platz in dessen gerade neu gegründeten Familie. Außerdem bringt er Licht in die Frage nach den Beweggründen und dem Verbleib ihrer Mutter, was Kya einen gewissen Seelenfrieden ermöglicht. Auch die Beziehung zu Tate, dem Kya ihren ersten Buchvertrag verdankt, und der sie immer noch liebt, gedeiht neu, nachdem die junge Frau ihren extremen Selbstschutz lockert. Das happily ever after scheint perfekt.

Ganz so märchenhaft endet das Buch dann aber doch nicht. Und wie könnte es das auch? Denn Delia Owens ist Zoologin und hat mit ihrem ersten Roman einen formvollendeten Spiegel der Natur entworfen, mit all ihrer Schönheit, aber auch ihrer Grausamkeit und ihren dunklen Geheimnissen. „Der Gesang der Flusskrebse“ ist wunderbar poetisch, aber auch gespickt mit skurrilen wissenschaftlichen Fakten, weshalb es wirkt wie eine fantastische Symbiose aus „Tom Saywer und Huckleberry Finn“ und „I fucking love science“. Es ist ein realistisches Buch und bei aller Emotionalität absolut unkitschig.

Was Kya über Sozialleben, Fortpflanzung und das Leben allgemein gelernt hat, stammt zum weitaus größten Teil aus ihren Beobachtungen der Natur und aus Tates Biologie-Büchern. Die Fuchsfähe, die bei widrigen Umständen ihre Jungen im Stich lässt um lieber später noch einmal zu werfen, hat daran ebenso Anteil wie die Gottesanbeterin, die ihren Partner während der Kopulation lebendig verspeist oder wie der löffelförmige Penis, mit dem Libellenmännchen bei der Begattung den Samen ihrer Vorgänger entfernen. Was bei Kyas Entwicklung zu kurz kam, waren Geborgenheit, menschliche Werte und die Möglichkeit zur Bildung eines moralischen Kompasses. Sie wuchs da auf, wo die Flusskrebse singen, eine Metapher für die noch unverfälscht wilde Natur fernab des menschlichen Einflusses. Da, wo nur das pure Überleben über richtig oder falsch bestimmt. Und diese Tatsache prägt ihre anrührende Geschichte mehr, als der geneigte Leser wahrhaben möchte.

Danke für das Foto, Morgane Perraud