
Von frustriert zu frei und hoffentlich nie zurück
Vielleicht fällt es in dieselbe voyeuristische Kategorie wie Big Brother & Co., aber immerhin ist es selbstbestimmt und wirklich inspirierend: Die Vlogs junger Menschen, die einen sehr individuellen Weg gewählt haben und diesen regelmäßig und mit einfachen Mitteln auf Youtube dokumentieren.
Ich bin ein großer Fan zweier junger Frauen in den USA, von denen es erfreulicherweise sogar ein kleines Crossover gibt, weil sie sich im letzten Winter getroffen und ein Stückchen ihres Weges gemeinsam bestritten haben: Hannah Lee Duggan ist schon seit fast drei Jahren in ihrem selbstgebauten Campingbus quer durch die USA unterwegs. Isabel Paige ist eine junge Yoga-Lehrerin, die sich nach einigen rastlosen Reisen ein Tinyhouse in den Bergen des amerikanischen Nordwestens gebaut hat.

Weder Hannah noch Isabel macht einen Hehl daraus, dass sie sich für ihr unkonventionelles, nicht ganz ungefährliches und oft sehr isoliertes Leben abseits der Gesellschaft unter anderem deshalb entschieden haben, weil sie in einem „normalen“ Lebensmodell mit Depressionen und Angstneurosen zu kämpfen hatten. Dieses Phänomen habe ich schon einmal in einem Beitrag über Leena Henningsen angesprochen. Auffallend viele kreative junge Frauen brechen aus dem Hamsterrad aus und machen sich auf die Suche nach einem „einfachen“ Leben, das ihre Bedürfnisse nach Nachhaltigkeit, Freiheit, Natur und Sinnhaftigkeit befriedigt.
Sicher gab es das auch früher schon. Damals waren das die sogenannten Hexen, die in einer abgelegenen Hütte hausten oder mit Pferd, Wagen und Kristallkugel unterwegs waren, sich mit Kräutern und Lebensweisheiten auskannten und bei anderen Menschen sehr gemischte Gefühle auslösten. Heute haben diese jungen Frauen (es gibt natürlich nicht nur weibliche Vertreter) ganz andere Möglichkeiten, sich auszudrücken und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Meiner Meinung nach ein Segen.
Es ist momentan ein echter Hype, diese Schnittmenge aus Vanlifern, Tinyhouse-Movern, Offgrid-Künstlern, Cottagecore-Fans, Bushcraftern, Travelern, Yoginis, No-Waste-Gurus und Was-auch-immer-Alternativen, die in einem Birth-School-Work-Death-Dasein mit früher Ehe, zwei Kindern, Hund und Bausparvertrag partout nicht zurecht kommen und mutig genug für den Ausbruch sind. Längst nicht alle machen eine Ego-Doku daraus, und manche versuchen es vielleicht, scheitern aber daran. Es bleiben trotzdem nicht wenige, die ihre Entwicklung so wie Hannah und Isabel über Jahre hinweg sehr authentisch und mit einem wachsenden Publikum teilen. Und anders als gewisse Fernsehformate versprühen sie dabei eine beachtliche Menge good Vibes, Mut und Hoffnung. Sie beweisen immer wieder aufs Neue, dass ein anderes Leben wirklich möglich ist, ohne den hohen Preis zu verhehlen.
Was ich an den beiden besonders schätze, ist die berühmte Kunst, sich die Laune nicht verderben zu lassen, zumindest nicht auf Dauer. Sie haben den heiligen Gral für unerschöpfliche Lebensfreude gefunden, scheint mir. Und das trotz gelegentlichen Schwierigkeiten mit der psychischen Balance. Ich hoffe sehr, dass das auch wirklich der Realität entspricht, und vor allem, dass das auch so bleibt. In den letzten Monaten las man viel von Influencern, die Selbstmord begangen haben. Und mal abgesehen von der großen Tragik fände ich es unglaublich desillusionierend, wenn sich eines Tages heraus stellen würde, dass der besagte Gral solcher inspirierender Frauen doch nur ein schnöder Plastikpokal war.
Danke für das Foto, Katie Drazdauskaite

