
Verliebt in Marstal
Eigentlich bin ich ja hierher gekommen, um Ruhe und Frieden zu finden. Ruhig und friedlich ist es in der Regel da, wo möglichst wenig Menschen auf möglichst viel Raum verteilt sind. Mein Augenmerk lag daher besonders auf einem kleinen, idyllischen Dorf.
Nicht, dass ich dieses kleine, idyllische Dorf aus dem Blick verloren hätte, aber ich war zwischenzeitlich ernsthaft in Gefahr, von meinem lange verfolgten Pfad abzukommen. Weil ich mich sehr in Marstal verliebt habe, die Hafenstadt im Süden von Ærø. Marstal ist zwar die größte Stadt der Insel, aber es ist nicht die Hauptstadt. Und in Relation zu dem, was man zum Beispiel in NRW als Stadt definiert, ist Marstal auch nur ein Dorf. Jedenfalls jetzt, in der Vorsaison.

Dieser Ort ist zum einen typisch dänisch, mit winzigen, bunten Häuschen und Stockrosen in den schmalen, verwinkelten Gassen. Zum anderen ist der Ort geprägt von der Seefahrt. Überall sieht man Schiffe: im Hafen, auf der Straße, in den Fenstern und an den Fassaden. Möwen, Schiffsschrauben, Fischernetze und verschiedenste Geschäfte mit Bootsbedarf sind allgegenwärtig. Und weil hier außerdem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, fühlt man sich ein wenig wie in einem Piratenfilm. Es ist bezaubernd.

Wir drehen inzwischen jeden Abend eine Runde durch das Städtchen anstatt durch den zeckenverseuchten Wald. Und ich ertappe mich wiederholt dabei, die Häuser mit „Til Salg“-Schild („Zu Verkaufen“) im Fenster auf den Immobilienseiten aufzurufen und über eine Alternative zum Leben in der Dorfidylle nachzudenken. Zwei mit relativ geräumigem Garten waren in meiner Preislage dabei. Die Versuchung war groß. Und ganz abgehakt habe ich diesen Gedanken an ein anderes Leben noch nicht. Nur zu etwa 99,9 Prozent.
Es ist doch interessant, wie leicht man aus dem Konzept gebracht werden kann. The grass is always greener on the other side. Aber ich finde es auch normal, dass man am liebsten das Beste aus mehreren Welten hätte. Ein Haus in der Stadt, eins in den Bergen und eins auf dem Land. Eines in Italien oder Südfrankreich und ein anderes in den Lofoten. Miami, New York, Seattle. Barcelona und Buenos Aires. Tokio. Neuseeland. Kanada. Eine Jurte in der Mongolei wäre bestimmt auch interessant. Oder Namibia.
Vielleicht ist es auch die urmenschliche Sehnsucht nach der ganzen Welt, die Schiffe so reizvoll macht? Anders als Flugzeuge, denn mit denen legt man ja schließlich nicht einfach auf unbestimmte Zeit irgendwo an. Dieser ganze Vanlife-Trend hat wahrscheinlich auch damit zu tun. Home is where you park it. Anlegen statt ankommen. Solche Nomadenträume sind zwar für mich passé, doch die Atmosphäre eines Hafens, der Blick auf ein- und auslaufende Fähren und der sirenenartige Gesang, der irgendwo zwischen den Masten der vielen Segelboote an den Stegen entsteht – das alles lockt mich immer noch. Hätte ich nicht gedacht.

