Grimoire

Tragische Freunde

Es waren einmal zwei Freunde, die auf der Sonnenseite geboren schienen. Ihre Familien gehörten zum gutsituierten Mittelstand, die Kindheit verlief sorglos und unbeschwert, die Jungs wuchsen genau so auf, wie es sich Jungs wahrscheinlich wünschen. Sie waren keine Streber, aber auch nicht doof, schlecht in Latein, aber sehr gut in Sport. Sie waren in den angesagten Vereinen, in denen ihre Eltern im Vorstand saßen. Sie sahen auch sehr gut aus, erst süß und später dann verwegen, und alle Mädchen waren irgendwann einmal in mindestens einen von ihnen verknallt.

Die zwei waren seit dem Kindergarten unzertrennlich, sie wohnten in derselben Straße, ihre Zimmer verbunden durch die Dächer einer Reihe von Garagen, so dass sie sich spätabends wie Joey Potter und Dawson Leary heimlich besuchen konnten. Ihre Jugend verlief angemessen wild, ein paar zu heftige Parties, ein bisschen zuviel Alkohol, ein bisschen kiffen. Aber keiner von beiden wurde je erwischt oder machte eine so große Dummheit, dass es Folgen gehabt hätte. Nach dem Ausleben dieser pubertären Standard-Eskapaden konzentrierten sie in einem Anflug von sportlichem Ehrgeiz auf den Schulabschluss, der ihnen – wie alles andere bisher auch – problemlos gelang. Sie begannen eine Ausbildung in den besten Betrieben der Region und machten den Führerschein.

Unmittelbar danach verunglückte einer von ihnen mit seinem nagelneuen Motorrad und landete im Rollstuhl. Das Entsetzen war groß. Wie konnte einem Glückspilz so etwas widerfahren? Die Eltern seines besten Freundes reagierten prompt und schenkten ihrem Sohn statt der geplanten Enduro einen coolen Roadster mit state-of-the-art Sicherheitsausstattung.

Die Freundschaft bekam einen Knacks, denn auf einmal verliefen die Leben der beiden in völlig unterschiedlichen Bahnen. Der nun gehandicapte Freund blieb trotz allem seiner positiven Lebenseinstellung treu und machte das Beste aus der neuen Situation. Er passte seine beruflichen Pläne an und feierte bald Erfolge in einer selbst erschaffenen Nische. Sein Kumpel mit dem Roadster dagegen verlor sechs Jahre später den Kampf gegen eine extrem seltene Form von Knochenkrebs.

Diese Geschichte ist nur halb fiktiv, und die Vorkommnisse haben mich lange vor allem wegen des „Final Destination“ Anklangs fasziniert. Mich beschäftigt aber auch die „Life’s what you make it“ Message, die dem typischen Schicksal-Glauben eigentlich widerspricht oder zumindest Grenzen setzt. Ich habe zuletzt oft mit meiner Mutter über die Einflüsse von Genen, (sozialem) Umfeld und individuellem „Glück“ auf die Lebenschancen diskutiert. Und wie verschieden dieses oft entscheidende Quentchen Glück eigentlich definiert wird – also nicht nur in der allgemeinen Bedeutung dieses sehr subjektiven Begriffs. Ich weiß, dass es durchaus Menschen gibt, die behaupten, lieber tot zu sein als im Rollstuhl zu sitzen. Und dass sich diese Einstellung überraschend schnell ändern kann.

Manchmal stellen sich Schicksalsschläge im Nachhinein als glückliche Fügungen heraus. Manchmal denkt man in einem Moment „Glück gehabt!“ nur um sich wenig später als größten Pechvogel der Nation zu betrachten. Noch ein Grund, ein Descansos-Papier anzufertigen, über persönliches Glück nachzudenken und fortan möglichst wenig Zeit mit „Hadern“ zu verschwenden.