Kranich
Grimoire

Stimmfühlung

Gestern konnte ich mehrere große Kolonnen nach Norden ziehender Kraniche beobachten. Es waren hunderte der großen Vögel, und die einzelnen Gruppen flogen teilweise beachtliche Manöver, ganz anders als die geradlinigen Gänse, die man hier sonst zu Gesicht bekommt.

Kraniche gelten sowohl in der fernöstlichen, als auch in der griechischen und keltischen Mythologie als Glücksbringer. Das ist kaum verwunderlich, denn sie gehören zu den ersten Frühlingsboten, und wer sie nach Norden ziehen sah, konnte sicher sein, das Schlimmste überstanden zu haben. Aber auch ihre Grazie beim Balztanz und ihre Ausdauer und Kraft (Kraniche können bis zu 2000 Kilometer am Stück fliegen) haben den Menschen wahrscheinlich immer schon Bewunderung abgerungen.

Das Schöne ist, dass man die Kraniche kaum verpassen kann, wenn man das Glück hat, ihre Route zu kreuzen. Denn sie gehören (wie die Wildgänse) zu den Zugvögeln, die unterwegs laut schnattern und schreien. Man nennt das Stimmfühlung, denn es ist ihr Ersatz für die Tuchfühlung, die während des Flugs nicht möglich ist. Die Vögel bleiben also durch ihre Stimmen miteinander in Kontakt und synchronisieren sich, damit ihnen niemand abhanden kommt und es keine Kollisionen gibt.

Stimmfühlung kann man auch das nennen, was viele von uns – Telefon und Internet sei Dank – während der Pandemie praktiziert haben, um wichtige Beziehungen aufrecht zu erhalten. Ich muss mich sehr beherrschen, in diesem Zusammenhang nicht an das durchgehende Hallo-Schreien meiner Mutter zu denken, das erst in ihren letzten Tagen mangels Kraft verstummte. Oder an meinen Vater, der nur noch eine Stimme hat, wenn ein bestimmtes Ventil an dem Röhrchen in seinem Hals befestigt wird.

Die Stimme ist wichtig, und man sollte sie nutzen, wenn man kann.

Danke für das Foto, Manas Mulay