
Stabilität durch Rituale
Ein jeder von uns hat gewisse Rituale, auch wenn mancher sie ungern so nennt. Sie müssen keineswegs religiös oder besonders feierlich sein. Auch bei Menschenaffen wurden schon rituelle Handlungen beobachtet.
Ein Ritual hat immer eine stabilisierende Wirkung. Auf Beziehungen und Bindungen, auf Denkmuster, auf Strukturen, auf den individuellen Tagesablauf und vieles mehr. Es kann auf den ersten Blick banal erscheinen, weshalb seine Macht oft unterschätzt wird.
Ich erinnere mich deutlich an ein sehr typisches „Ritual“ aus meiner Studienzeit, als ich in einem kleinen Laden in meiner Heimatstadt jobbte. Das Geschäft war einzigartig – eine Institution in einer typischen deutschen Kleinstadt. Die Inhaberin hatte aus einem ehemaligen Tee- und Pflanzenmarkt, in dem unter dem Tisch auch Marihuana verkauft wurde, eine Boutique für besondere Geschenke gemacht. Tee gab es dort weiterhin. Kräuter, Schwarztee, Grüntee und Früchtetee wurden mit einer antiquiert wirkenden Waage von Hand ausgewogen. In den Duft der verschiedenen Sorten mischten sich die Gerüche von Räucherstäbchen, Henna, Duftkerzen und ätherischen Ölen. Außerdem gab es ausgefallenen Schmuck, besondere Papeterie und Wohnaccessoires.
Die Räumlichkeiten waren alt und ein bisschen schäbig. Wenn es stark regnete, wurde es im Lager nass, und die Toilette befand sich im Hof. Außerdem zeugte ein Schrank mit Wasserpfeifen von der früheren Klientel, die dem Laden treu blieb und dem Geruch des Geschäfts eine kaum wahrnehmbare Note Tabak, Gras und Patchouli hinzu fügte.
Die Chefin war nicht immer einfach und bei den Kunden geradezu verschrien für ihre manchmal ausgesprochen ruppige Art. Ihren Mitarbeitern gegenüber war sie aber immer absolut loyal. Und sie verstand es, ihr Geschäft nicht nur durch ihr handverlesenes Sortiment zu etwas Besonderem zu machen, sondern auch durch ihre Wertschätzung gegenüber den Angestellten. Dazu gehörte unter anderem der Kaffee am Nachmittag.
Es war wie gesagt ein Teegeschäft, und wir hatten keine Kaffeemaschine. Aber jeden Nachmittag, wenn es eine ruhige Phase gab, wurde eine von uns zu einem griechischen Café zwei Ecken weiter geschickt, um dort ein kleines Tablett mit winzigen Tassen nachtschwarzen Gebräus, Zuckerwürfeln und Kaffeesahne zu holen. Das Café hatte keinen Namen, und es verkehrten dort ausschließlich ältere Männer. Es war klein und verqualmt, und in einer Ecke unter der Decke lief ein uralter Fernseher mit griechischen Nachrichten, abgeschirmt von einem flatternden Stück zerknitterter Alufolie, damit sich das spärliche Licht nicht auf dem Bildschirm spiegelte. Man fühlte sich unweigerlich nach Griechenland versetzt, sobald man das Café betrat. Ich habe anfangs immer geglaubt, dass Frauen dort gar keinen Zutritt hätten, doch die Herzlichkeit der Gäste und der Bedienung strafte diesen Verdacht Lügen.
Der Kaffee war meist nicht mehr richtig heiß, bis man ihn über das Kopfsteinpflaster ins Geschäft balanciert hatte. Mir war er eigentlich auch zu stark und die Tassen viel zu klein. Aber das tat dem Genuss an diesem scheinbar unbedeutenden Ritual keinen Abbruch. Die Tassen wurden gespült und wieder zurück ins Café gebracht. Danach ging man motiviert von einem Schub Koffein, frischer Luft und griechischer Lebensart zurück ans Werk. Es war ein besonderer Kaffee, mit einem besonderen Prozedere und ein verlässlicher Fixpunkt in einem oft hektischen Tagesablauf.
Es ist zwanzig Jahre her, dass ich dort gearbeitet habe. Aber das Ritual des griechischen Kaffees habe ich später oft vermisst. Heute weiß ich, dass mir mit ihm auch einiges andere verloren ging.
Die Inhaberin ist letztes Jahr verstorben, aber sie wird mir unvergessen bleiben. Ihr Vermächtnis an mich – das Bewusstsein für kleine Besonderheiten und das Wissen um die Bedeutung von Ritualen – halte ich in hohen Ehren.
