
Spuk im Garten
„During the day, I don’t believe in ghosts.
At night, I’m a little more open-minded.“
– Unbekannt
Als ich heute Morgen die Wildkamera aus dem Garten hereinholte und die Bilder importierte, habe ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit richtig schlimm gegruselt. Denn mir sprang schon bei der Vorschau ein Foto ins Auge, das so aussah, als hätte in der Nacht eine weiß gekleidete Person auf unserer Terrasse gestanden. Ich klickte das Bild an, und meine Haare stellten sich auf.
Die Kamera ist knapp über dem Boden angebracht, da es in unserem Garten sowieso nur Besucher gibt, die maximal Katzengröße erreichen. Menschen verirren sich mangels Zugänglichkeit nicht auf unsere Terrasse, schon gar nicht nachts. Doch auf dem fraglichen Bild, das laut Zeitstempel der Kamera um 4:36 Uhr entstanden ist, sind weiß gewandete Beine und schrundige, nackte Füße zu sehen. Die Gestalt steht dem Haus abgewandt und blickt offenbar in den Garten.
Ich hatte Gänsehaut, während mein Hirn krampfhaft nach einer Erklärung suchte. Mein erster, intuitiver Gedanke war, dass der Geist einer meiner Eltern des Nachts ums Haus spukte. Aber das Foto war einerseits so real, dass es sich kaum um ein Gespenst handeln konnte, und andererseits vom Motiv her so absurd, dass ich einfach keine vernünftige Erklärung dafür finden konnte.
Meine Mutter hat oft behauptet, dass manchmal Obdachlose in unserer Pergola übernachteten. Doch das hat ihr niemand so recht geglaubt. Wenn sich schon jemand die Mühe machte, zu Übernachtungszwecken in unseren Garten einzudringen, wäre die Wahl bestimmt eher auf einen der Nachbargarten gefallen. Denn dort gibt es Gartenhäuser, die wesentlich mehr Schutz bieten als unsere nach allen Seiten offene Pergola. Gegen einen Obdachlosen sprach außerdem das fleckenlose Weiß der Kleidung.
Am plausibelsten erschien mir schließlich die Theorie, dass einer unserer Nachbarn schlafwandelte oder – wie einst meine Mutter – aufgrund einer Demenz des Nachts draußen herumirrte. Das würde auch die Barfüßigkeit trotz der aktuellen Temperaturen und die Kleidung, die wie ein Nachthemd oder vielleicht auch eine Schlafanzughose aussah, erklären. Zwar würde es auch einem somnambulen Nachbarn nicht leicht fallen, auf unsere Terrasse zu gelangen, aber es war immerhin möglich.
Diese Überlegung beruhigte mich scheinbar ausreichend, um wieder klar denken zu können. Auf der Suche nach Kontext klickte ich auf die nachfolgenden Bilder. Auf dem nächsten Foto gab es keine Spur mehr von der weißen Gestalt, nur die leuchtenden Augen einer Maus hinter einem der Blumenkübel. Und auf dem danach kaum sichtbar die grauen Beine von Gandalf irgendwo Dunkel des Gartens. Mir fiel ein, dass ich ihn morgens direkt nach dem Aufstehen und noch vor meinem ersten Kaffee kurz in den Garten gelassen hatte, weil er es offenbar eilig gehabt hatte. Das muss ungefähr um halb sechs gewesen sein, denn um zwanzig nach fünf klingelt mein Wecker.
Ich stutzte, denn ich hatte die Wildkamera so eingestellt, dass sie nur zwischen 22 Uhr abends und 5 Uhr morgens Aufnahmen macht. Wieso war Gandalf dann auf dem Foto? Deutlich nach fünf Uhr? Ich sah auf den Zeitstempel. 4:37 Uhr. Und dann endlich dämmerte es mir: Ich hatte die Kamera noch nicht auf Sommerzeit umgestellt. Das Foto war nicht um 4:36 Uhr, sondern um 5:36 Uhr entstanden. Und die weiße Gestalt auf dem Foto trug in Wirklichkeit eine schwarze Schafanzughose und schmutzige Socken (weil ohne Schuhe im Garten), die das Blitzlicht gründlich entfärbt hatte. Das Gespenst war ich selbst, Gandalfs Treiben im Garten überwachend.
Man mag mich für blöd halten, weil ich nicht eher darauf gekommen bin. Aber ich habe – vielleicht abgesehen von meiner Taufe als Baby – noch niemals etwas Weißes getragen. Die Wildkamera hat auch noch nie zuvor etwas Schwarzes in Weiß verwandelt. Und das Foto entstand – angeblich – zu einer Zeit, als die Jalousien zum Garten noch geschlossen waren und ich im Tiefschlaf lag. Um 4:36 Uhr war ich garantiert nicht im Garten gewesen, soviel wusste ich sicher. Und wenn ich morgens aufstehe, hat die Kamera längst ihren Betrieb eingestellt. Dieses „Wissen“ hat mich blind gemacht.
Hinzu kam, dass ich selbst die zwei Minuten am Morgen, als ich Gandalf kurz raus gelassen hatte, schon nicht mehr richtig auf dem Schirm hatte. Ich war praktisch noch im Halbschlaf gewesen. Und als ich die Fotos importierte, lagen dazwischen immerhin zwei gemütliche Tassen Kaffee, Mails und Nachrichten checken, die Dusche, eine dreiviertel Stunde mit den Hunden im Feld, ein Schwätzchen mit einer Hundebekanntschaft und die anschließende Fütterung der Raubtiere.
So leicht kann man sich selbst hinters Licht führen. Den Rest des Tages habe ich mich köstlich über den Vorfall amüsiert. Fotos sind nur Fotos. Und was wir sehen, bestimmen nicht nur unsere Augen, sondern vor allem unser Gehirn. Kann man sich nicht oft genug dran erinnern.

