Grimoire

Spoiler im Ewigen Eis

Die tragikomische Newsmeldung über einen blutigen Streit zweier Russen in der antarktischen Bellingshausen Forschungsstation hat wieder einmal bewiesen, was für ein hohes emotionales und psychologisches Potenzial mit Büchern – oder Geschichten generell – einher geht.

In der einsamen gelegenen Station auf der King George Insel arbeiteten nämlich zwei Männer, beide um die 50, von denen einer nun im Krankenhaus liegt, weil der andere mit einem Küchenmesser auf ihn los ging. „Das arme Opfer!“ könnte man sagen, aber jeder, der Geschichten liebt, wird vielleicht doch ein wenig mit dem Täter sympathisieren. Denn der hatte nachvollziehbare Gründe für die Bluttat. Er vertrieb sich nämlich die lang (laaang) werdenden Abende in der eiskalten Diaspora mit Lesen. Was sein Kollege ihm regelmäßig madig machte, indem er ihm den Ausgang der Bücher vorzeitig verriet. Das brachte den Jüngeren der beiden Männer irgendwann so in Rage, dass er zustach.

So etwas kann man natürlich nicht gutheißen, aber verstehen kann man es durchaus. Wiederholtes Spoilern aus reiner Boshaftigkeit ist fies, umso mehr, wenn es kaum andere kleine Fluchten aus der kargen Realität – wie zum Beispiel im Ewigen Eis – gibt.

Nachdem ich die betreffende Nachricht gelesen hatte, habe ich einmal überlegt, wie viele Geschichten ich eigentlich mehrmals gelesen, gesehen oder angehört habe, ohne dass sie mich gelangweilt hätten. So wenige sind es gar nicht. Es ist natürlich etwas ganz anderes, wenn eine andere Person den Ausgang einer Story vorweg nimmt, aber dennoch ist nicht selten auch bei Büchern, Filmen oder Serien der Weg das Ziel. Und noch öfter scheint sich der Weg von Mal zu Mal zu wandeln, weil sich ein Großteil eben doch im eigenen Kopf abspielt. Wer in der Lage ist, eine Geschichte so zu erzählen, dass sich der Spannungsbogen immer wieder neu aufbaut, ist ein wahrer Künstler.