Sonntagsnostalgie
Die meisten Familien haben ein bestimmtes Muster, nach dem die Sonntage ablaufen, wenn kein besonderer Anlass zu Abweichungen zwingt. Es mag ein sehr grobes Muster sein und je nach Jahreszeit variieren. Zumindest einen Fixpunkt gibt es aber fast immer. Bei manchen ist es der Besuch des Gottesdienstes, bei anderen ein langer Spaziergang, ein Besuch im Wildpark, bei den Großeltern, beim örtlichen Italiener oder auch die Teilnahme an sportlichen Veranstaltungen. In meiner Familie war es der gemeinsame Nachmittagstee mit Waffeln oder Blechkuchen und „Radio Zitrone aus der Dachkammer“. Als ich noch klein war, stand vormittags ein Waldspaziergang oder im Winter Schlittschuhlaufen im Eisstadion auf dem Programm. Das fiel später wohl der zunehmenden Unabhängigkeit von uns Kindern zum Opfer.
Mir ist erst irgendwann Anfang diesen Jahres aufgefallen, dass mir solche „echten“ Sonntage abhanden gekommen sind, vor allem aus beruflichen Gründen, denn allzu oft muss an einem Sonntag eben doch gearbeitet werden. Seit mir das bewusst geworden ist, versuche ich, wenigstens einen Tag in der Woche zum Sonntag zu machen. Einen Tag mit extra langem Spaziergang gefolgt von Tee und Kuchen am Nachmittag. Radio Zitrone gibt es leider nicht mehr, aber FM4 ist mein Freund, und außerdem bin ich nach langer Verweigerung nun doch noch auf den Hörbuch-Geschmack gekommen. Jetzt, da der Hochsommer sich endlich verabschiedet, ist auch Backen wieder schmerzfrei möglich. Der Geruch gehört unbedingt dazu.
Ich schaffe es nicht jede Woche, aber wenn es klappt, ist so ein „Sonntag“ sowohl körperlich wie seelisch die reinste Wohltat und perfekte Erholung. Ich fühle mich dabei wie der größte Spießer aller Zeiten, aber ich genieße es. Welch ein Luxus das eigentlich ist, es damals schon gewesen ist, weiß ich erst heute. Für viele mag das persönliche Sonntagsritual eine Selbstverständlichkeit sein. Weil ich neben der Kirche, über dem lokalen Café und gegenüber der Pizzeria des Ortes wohne, kann ich sehen, dass ein Großteil der hiesigen Bevölkerung durchaus mit schöner Regelmäßigkeit seinen sonntäglichen Gewohnheiten nachgeht. Allerdings sehen einige dabei nicht unbedingt glücklich aus. Sie würden lieber etwas anderes machen, woanders sein. Familienzwang? Gruppenzwang? Beruflich oder politisch bedingte Erfordernisse? Wie glücklich kann man sich schätzen, wenn einem nichts davon gegen den Strich geht! Ich bin überzeugt, dass man an solchen Dingen erkennt, ob man im individuell passenden Lebensmodell sitzt.