Schicksalsrad vs. Hamsterrad
Diese Woche begann mit gleich zwei Todesnachrichten, wobei eine davon genau genommen mit zweijähriger Verspätung bei mir ankam. Und genau das hat mich ziemlich erschüttert.
Ich habe die Person nur flüchtig gekannt, eine dieser typischen Online-Bekanntschaften, die man selten offline trifft, aber die man dank Social Media fast täglich „sieht“. Eine Weile gab es einen intensiveren Austausch, danach drifteten unsere Leben und vor allem beruflichen Interessen auseinander. Der Algorithmus tat sein Übriges dazu, dass man sich seltener wahrnahm. Aber die Schnittmenge unserer virtuellen Bekanntenkreise hätte eigentlich groß genug sein müssen, das Drama zu mir durchdringen zu lassen. Und ein Drama war es tatsächlich. Ich habe es gegoogelt. Das Netz war voll von Nachrichten, Nachrufen und Kommentaren. Unübersehbar. Und doch ist es erst gestern zu mir durchgedrungen.
Sowohl die Tatsache, dass es an mir vorbei gegangen ist, als auch meine völlige Blindheit angesichts des Fehlens eines Menschen – immerhin fast zwei Jahre lang – beschämt mich zutiefst. Ich habe meinen Kalender befragt, und mir ist klar, warum ich nichts mitbekommen habe. Ich war praktisch offline und danach lange Zeit extrem fokussiert auf eine sehr, sehr kleine Welt. Berufsbedingt. Das gilt nicht als Entschuldigung, denn ich hatte es mir ja so ausgesucht. Aber das Ausmaß meiner – nennen wir es ruhig so – Beschränktheit habe ich damals nicht erahnt.
Allerdings ist mir diese Beschränkung auf eine extrem kleine Nische an Themen, Personen und Eindrücken schnell sauer aufgestoßen und hat letztlich auch zum Ausbruch geführt. Bis dahin gingen aber ein paar Monate ins Land, und noch im Nachhinein habe ich manchmal überlegt, ob dieser Ausbruch wirklich vernünftig war. Doch spätestens seit gestern ist jeder Zweifel wie weg gewischt.
Heute wird uns viel zu oft suggeriert, dass man sich für den Job aufopfern muss. Dass es völlig normal ist, eine immer eingeschränktere Perspektive zu haben, weil die Arbeit es nun mal erfordert. Dass das Hamsterrad aus Fachidiotie, permanentem Stress und zunehmender Unausgeglichenheit das Leben bestimmen muss. Wenn wir das Gestrampel verweigern, bleiben maximal Scheißjobs (finanziell oder moralisch oder beides) und Prekariat für uns übrig.
Genau dieser Bullshit trägt einen nicht unerheblichen Anteil an der stetig wachsenden Zahl psychischer Erkrankungen in unserer ach so modernen westlichen Gesellschaft. Gleichzeitig zeugt ein Hype um sogenannte „Achtsamkeit“ davon, dass sich viele Menschen sehr wohl noch etwas anderes wünschen. Doch wenn zwei Stunden Yoga pro Woche zusätzlichen Stress verursachen anstatt ihn auszugleichen, beißt sich die Katze in den Schwanz.
Entschleunigung ist nur mit einem veränderten Arbeitskonzept möglich, und das klappt selten ohne Opfer. So ein Opfer muss aber gar nicht so weh tun, wie zunächst befürchtet. Es ist Teil des Hamsterrades, dass wir blind sind für unsere Möglichkeiten. Und für den Ballast, den wir mit uns herum schleppen. Um unsere wahren Prioritäten klarer zu sehen, können wir Tarot-Karten befragen. Oder mit Archetypen arbeiten, etwa, indem wir einmal genauer hinterfragen, warum wir eine bestimmte Serie auf Netflix und einen speziellen Protagonisten eines Blockbusters besonders mögen. Mit welchen Helden unserer Kindheit konnten wir uns am besten identifizieren? Welche Bücher, Comics oder Computerspiele mögen wir gern?
Und dann können wir beginnen, bewusst an unserem Schicksalsrad zu drehen. Es wird ganz sicher kein Hamsterrad sein.
