Grimoire

Puzzle

Gestern hatte ich einen überraschenden und intensiven Flashback. Am Abend habe ich das fast große Kind zu meiner Schwester nach Wuppertal gebracht und erst unterwegs erfahren, dass das Hildener Kreuz bis Montag gesperrt ist. Auf der Hinfahrt rutschten wir gerade noch so durch. Aber die Rückfahrt wurde zu einer kleinen Odyssee über dunkle Landstraßen und kleine Dörfer durch eine Gegend, die mich schlagartig an meine nächtlichen Fahrten zum Lieblingsclub erinnert hat, damals, vor einer gefühlten Ewigkeit, als ich noch eine unbeschwerte Studentin war. Ich bin jetzt in dem Alter, in dem mir solche Erinnerungen surreal erscheinen, als stammten sie aus einem ganz anderen Leben. Das ist besonders ausgeprägt, wenn ich absolut keine aktiven Verbindungen mehr zu der betreffenden Zeit habe, und das ist oft so. Mal abgesehen von ein paar stillen Facebook-Kontakten. Und von ein paar musikalischen Evergreens, die heute manchmal im Abendprogramm des Radiosenders laufen, den damals meine Eltern hörten.

Ich frage mich in solchen Momenten, ob das nur mir so geht, dass ganze Lebensabschnitte völlig voneinander abgekapselt sein können, als hätten die Nornen immer wieder versehentlich meine Fäden abgeschnitten, um dann hastig mit willkürlichen Enden neu anzuknüpfen. Es gibt wenig, das sich wie der berühmte rote Faden durch mein gesamtes Leben zieht, mal abgesehen von der Familie und ein paar wenigen Freunden, die ich längst ebenfalls als Familie betrachte.

Seit ich wieder in Deutschland bin, finden sich solche gekappten Fäden manchmal doch noch wieder. Das betrifft Menschen, aber vor allem Interessen, die ich fast vergessen hatte, und sogar das eine oder andere Talent. Es hat nichts mit Nostalgie oder Retro-Neigung zu tun, und auch nur sehr entfernt mit einem Gefühl von „back to the roots“. Vielleicht spielt ein bisschen Midlife-Crisis hinein, oder das, was ich in den vergangenen Monaten bei meinen kranken Eltern gelernt habe.

In der letzten Zeit habe ich oft gedacht, dass das Leben wie ein Puzzle ist, bei dem man ja auch die passenden Stücke immer leichter findet, je weiter man schon gekommen ist – also je älter man ist. Mir gefällt an dem Bild die Tatsache, dass alle Puzzleteile gleich wichtig sind, auch wenn manche, irgendwo aus der Mitte, für sich betrachtet, farblos und austauschbar aussehen. Das sind die, die am schwierigsten unterzubringen sind, aber auch sie haben ihren Platz und dürfen nicht vergessen werden, weil sonst ein Loch bleibt.

Wenn ich versuche, mir mein Leben wie ein Puzzle vorzustellen, habe ich immer noch kein konkretes Bild vor Augen, aber das Gefühl, als wäre die Mehrzahl meiner Puzzleteilchen schon verbraucht. Weil sich im Moment so vieles leicht einfügt. Deswegen habe ich die Befürchtung, dass mein Puzzle ein abstraktes Werk ist, mit viel Weiß und ein paar scheinbar willkürlichen, dicken Pinselstrichen. Ich bin kein Fan von abstrakter Kunst und hätte viel lieber etwas fotorealistisches oder ein Lowbrow-Kunstwerk. Etwas mit vielen, interessanten Details.

– Ok, es ist doch die Midlife-Crisis.