
Mädchen auf den Felsen
Was Bücher angeht, ist 2023 wirklich ein seltsames Jahr. Schon wieder ist mir eines untergekommen, das ich fast nicht beendet hätte. In Zeiten sehr großzügiger Leseproben ist das schon merkwürdig. Auch in diesem Fall handelt es sich um einen Bestseller einer Autorin, die bereits auf eine beeindruckende Menge weiterer Bestseller zurückblicken kann. Es liegt also sicher an mir. Warum ich plötzlich so ein mäkeliger Leser geworden bin, ist mir schleierhaft.
Es geht um „Mädchen auf den Felsen“ von Jane Gardam. Zum Glück habe ich mich nur mit dem ersten Viertel oder vielleicht auch Drittel extrem schwer getan. Ich habe das Buch weg gelegt und fast vergessen. Warum ich es dann doch noch einmal in die Hand genommen habe, kann ich nicht sagen. Aber danach wurde es immer besser, und insgesamt würde ich locker acht von zehn Punkten vergeben. Möglicherweise auch neun.
Es fing schwermütig, bedrückend und langatmig an, jedenfalls empfand ich das so. Ein achtjähriges Mädchen, Margaret, aus einer sehr religiösen Familie (der Vater ist Prediger) erhält unter dem Einfluss eines neuen, so gar nicht religiösen Kindermädchens Einblick in eine völlig andere Welt, die anfangs beinahe grotesk erscheint. Was zunächst rein zufällig wirkt, entpuppt sich später als geradezu schicksalhaft. Allmählich erschließt sich, was diese Welt mit der Familie der kleinen Margaret verbindet, und dann nimmt die Story plötzlich Fahrt auf, überraschend rasant sogar. Ein Kreis schließt sich, sehr spät zwar, und unterwegs gibt es leider Opfer, aber es ist ein verblüffendes, erleichterndes Happy End.
„Mädchen auf den Felsen“ ist eine Tragikomödie über Dünkel, Bigotterie, Stolz und Zaghaftigkeit bis hin zur Feigheit, die die Liebe, und zwar nicht nur die romantische, verkümmern und im Gegenzug psychische Schwierigkeiten gedeihen lassen. Man rätselt einmal mehr, warum Frauen ihre Liebe auf schwache Männer richten. Und in welchem Alter eigentlich die grandiose Hellsichtigkeit von Kindern verloren geht. Die Kulisse der sommerlichen Südküste Englands in der Nachkriegszeit ist eine gelungene Wahl für den Kontrast aus Drama und englischem Humor, die Jane Gardam in diesem Buch gekonnt miteinander verwebt. Ich bin wirklich froh, es doch noch zu Ende gelesen zu haben.

