Maddaddam
Margaret Atwoods Maddaddam-Trilogie ist spekulative Fiktion vom Feinsten. Eine Dystopie mit frappierenden Elementen unserer aktuellen Realität, die im deutschsprachigen Raum immer noch erstaunlich wenig Beachtung erfährt. Ähnlich wie „The Handmaid’s Tale“ (1985!) braucht vermutlich auch „Maddaddam“ (2003, 2009, 2013) die (bereits geplante) Serien-Verfilmung, um mit jahrzehntelanger Verspätung auf einen Schlag zum Hit zu werden. Für mich werden die drei Bände immer zu den besten Büchern zählen, die ich je gelesen habe.
Das hat natürlich auch ein wenig persönlichen Hintergrund. Die Bücher waren mein Brückenschlag von meiner Besessenheit Faszination für Transhumanismus, Gentechnik und Posthumanismus zu Dingen, die ich lange, lange Zeit mit aller Kraft verdrängt habe. Man kann sagen, dass Maddaddam mich geheilt hat. Aber zum Inhalt:
Oryx und Crake (2003)
Im ersten Band der Trilogie lernen wir Jimmy kennen, einen ehemaligen Werbespezialisten, der (scheinbar) als einziger Mensch eine Pandemie überlebt hat. Im Verlauf des Buchs und in zahlreichen Rückblenden wird klar, dass Jimmys hochbegabter Freund Crake, Leiter des geheimnisvollen „Paradies-Projekts“, die Epidemie mithilfe eines biotechnischen Virus herbeigeführt hat, um die Erde vom Elend des Homo sapiens sapiens zu befreien. Der geniale Wissenschaftler mit psychopathischen Zügen hat dazu auch seine Geliebte Oryx benutzt und kaltblütig getötet, als er sein Werk vollbracht wähnte.
Crakes Werk beschränkte sich allerdings nicht nur auf die Vernichtung der Menschheit. Er hat außerdem an der Erschaffung eines transgenen „Menschen“ gearbeitet, sozusagen ersatzweise. Diesen hat er so konzipiert, dass die Fehler von Homo sapiens sapiens nicht wiederholt werden. Die „Craker“, die nun neben Jimmy und einer genmanipulierten Flora und Fauna die Welt bevölkern, sind friedliche, schöne Abziehbilder des Menschen. Sie ernähren sich von Unkraut, und Dinge wie Hass, Eifersucht oder Religion sind ihnen fremd. Die Craker sind vegan, naiv, arglos und nackt, und sie paaren sich orgienartig, wenn ihre Frauen hormonell bereit sind und dieses – Pavianen nicht unähnlich – durch Blaufärbung gewisser Körperteile sichtbar machen. Das alles sorgt trotz der Düsternis des ersten Teils der Maddaddam Trilogie für viele komische Momente.
Als Jimmy sich verletzt, mangels ärztlicher Versorgung erkrankt und halluziniert, stellt sich heraus, dass er seinen Freund Crake getötet hat, nachdem er dessen Mord an Oryx mit ansehen musste. Denn auch Jimmy hat die schöne Asiatin geliebt.
„Oryx und Crake“ endet damit, dass der todkranke Jimmy auf weitere Überlebende der Pandemie stößt.
Das Jahr der Flut (2009)
Der zweite Band der Trilogie schildert die Geschehnisse einige Jahre vor und kurz nach der „wasserlosen Flut“, wie eine Sekte namens „Gottesgärtner“ das mysteriöse Massensterben der Menschen nennt. Zwei sehr unterschiedliche und unfreiwillige Mitglieder dieser Sekte, die resolute, pragmatische Toby und die noch sehr junge, leicht zu manipulierende Ren, haben die „Flut“ ebenfalls überlebt. Rückblickend erfahren wir ihre Geschichten, und wie sie zu den Gottesgärtnern kamen. Dabei erschließt sich das Bild einer Welt, der wir bereits beängstigend nahe sind. Die Macht liegt in den Händen von Konzernen, die Schere zwischen arm und reich ist bis zum Äußersten gespreizt, Korruption und Gewalt sind Alltag, die meisten Tier- und Pflanzenarten sind ausgestorben. Dafür hat der Mensch einige neue geschaffen und das Ökosystem damit endgültig zum Kollaps gebracht.
Die Gottesgärtner, angeführt vom undurchsichtigen Adam Eins, schaffen es mit unkonventionellen Mitteln, kleine Selbstversorger-Zellen zu betreiben, um sich gerade so über Wasser und unter dem Radar der Machthaber zu halten. Was dem Leser anfangs als etwas peinliche Gruppe von fanatischen Öko-Hippies erscheint, entpuppt sich zunehmend als geniale Tarnung für eine klug organisierte subversive Gruppierung. Die Gärtner scheinen nicht nur einen überraschenden wissenschaftlichen Background zu haben, sondern sie ahnen auch die „Flut“ voraus.
Die Sichtweisen und Erlebnisse von zwei so verschiedenen Frauen wie Toby und Ren machen „Das Jahr der Flut“ zu einer spannenden, erschreckenden, witzigen und teilweise sogar romantischen Lektüre. Margaret Atwoods Vision der Welt vor der Katastrophe ist dunkelgrau, aber auch bunt dank schillernder Lebewesen, Charaktere und Details.
Die Geschichte von Zeb (2013)
Im letzten Band der Trilogie werden schließlich sämtliche losen Enden der beiden ersten Teile zusammen geführt. Wie kam es zur Gründung der Gottesgärtner? Wer ist Adam Eins, und wer ist Tobys heimliche Liebe Zeb? Wer war Crake, wer war Oryx, und was hat schließlich zur Katastrophe geführt? Wie wurden die Craker geschaffen? Und wo ist Jimmy?
Es stellt sich heraus, dass noch mehr Menschen die Flut überlebt haben. Neben einigen ehemaligen Gottesgärtnern haben es – leider – auch einige der übelsten Exemplare der Gattung Mensch geschafft. Während der heroische Zeb Toby nach und nach die verrückte Geschichte von sich und Adam Eins erzählt, nimmt das Übel auf der vermeintlich ein für alle mal davon befreiten Welt erneut seinen Lauf. Es liegt weniger an der Verderbtheit weniger überlebender Mörder, sondern vielmehr an den scheinbar harmlosen, profanen menschlichen Schwächen der zahlenmäßig überlegenen „Guten“.
Die Craker entwickeln erste religiöse Züge und essen dank des menschlichen Einflusses vom Baum der Erkenntnis. Unter den Menschen sorgt derweil die Liebe bereits für erste Eifersüchteleien und Unfrieden. Und dann tritt auch noch das Unvermeidliche ein: Mensch-Craker-Babys sind unterwegs.
„Die Geschichte von Zeb“ endet mit der Gewissheit, dass Crakes radikaler Plan einer besseren Welt gescheitert ist. All die Toten, all die wissenschaftlichen Geniestreiche, alles umsonst. Als Leser bleibt man mit der leicht zynischen Ahnung zurück, dass der „natürliche“ Lauf der Dinge die Menschheit eines Tages wahrscheinlich gründlicher tilgen wird. Aber vielleicht ist das auch schlicht unmöglich…
Der finale Band der Maddaddam Trilogie brilliert ebenso wie „Das Jahr der Flut“ durch Margaret Atwoods unheimliche Hellsicht und ihre blühende Phantasie, mit der sie eine plausible und wissenschaftlich korrekte nahe Zukunft herauf beschwört, die zugleich faszinierend und haarsträubend ist. Darin steht sie ihrem geschätzten Kollegen William Gibson in nichts nach. Was sie sogar noch einen Tick besser kann als er: Protagonisten erschaffen, die die einem so real erscheinen, dass man glaubt, ihnen schon begegnet zu sein. Dazu kommt ihr unglaublicher schwarzer Humor, der in den unmöglichsten Passagen lauert.
Fazit
„Oryx und Crake“ war damals eine Zufallsentdeckung, die mich vor allem aufgrund der Thematik begeistert hat. Wirklich in Margaret Atwoods Werk verliebt habe ich mich erst mit der Lektüre von „Das Jahr der Flut“, was mich dann auch zu „The Handmaids Tale“ („Der Bericht der Magd“) und anderen Atwood-Romanen geführt hat. Als „Die Geschichte von Zeb“ erschien war ich längst ein Fangirl, und der Abschluss der Reihe hat mich nicht enttäuscht.