innerer Abriss
Grimoire

Innerer Abriss

Vor einer Weile hatte ich hier schon einmal erwähnt, dass es meine Grundschule nicht mehr gibt, was an sich nicht ungewöhnlich ist, aber es fühlt sich ein bisschen seltsam an, nach Jahrzehnten wieder dort vorbei zu gehen, und statt des vertrauten Schulhofs eine Wohnsiedlung zu sehen. Wesentlich emotionaler trifft mich allerdings eine andere Veränderung in meinem Heimatdorf: Gut Haller wird abgerissen.

Schon als ich klein war, gab es mehrere große Reitställe um unser Dorf herum, aber einer war besonders nah. Damals hieß er noch „Hodibe“. In der Turniersaison konnte ich die Lautsprecheransagen bis in mein Zimmer hören, so dass ich immer wusste, welcher Reiter gerade mit welchem Pferd an den Start ging, ob eine Stange abgeworfen wurde oder mehrere oder manchmal sogar der Reiter selbst. Als ich etwas größer war, so zwischen zehn und zwölf, trieb ich mich bei den Turnieren immer dort herum, schummelte mich auf die Tribüne und durfte manchmal fremde Pferde trockenführen, obwohl ich völlig ahnungslos war. Ich liebte die Atmosphäre, den Stallgeruch und natürlich die Tiere.

Eine Weile vor dieser Zeit gab es eine große Tragödie. Eines Abends war ein Feuer ausgebrochen, und diesmal waren es die Schreie der Pferde, die ich in meinem Kinderzimmer hören konnte. Und die Sirenen, aber die hörte ich aufgrund der Lage unseres Hauses sowieso ständig. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich damals war, maximal acht. Ich erinnere mich, dass die Mutter der besten Freundin meiner Schwester mit ihrem Hund am Stall vorbei kam und half, Pferde mit nach draußen zu bringen, es muss furchtbar gewesen sein. Viel wurde bei dem Brand zerstört, aber sehr schnell wieder aufgebaut, größer und besser offenbar, denn der Stall wurde prominenter, wechselte allerdings auch oft den Besitzer.

Zu der Zeit, als ich schon reiten konnte und selbst zwei Pflegepferde hatte, bei einem Bauern nicht weit von Gut Haller, gab es nur noch selten Turniere dort, und der Ruf des Stalls war nicht mehr der allerbeste. Als ich schließlich aus dem Dorf weg zog, schien er in die Belanglosigkeit abgerutscht zu sein. Es gab neue Reitanlagen, die moderner waren und besser ausbildeten, mehr Weideland oder größere Boxen hatten oder was auch immer. In der Pferdewelt hat immer alles auch viel mit Tratsch und Intrigen zu tun, deshalb kann ich nicht sagen, was passiert war – vielleicht auch nur der natürliche Lauf der Dinge.

Als ich letztes Jahr zurück nach Deutschland kam, war auf Gut Haller gerade ein sehr bekannter Spring- und Dressurausbilder eingezogen. Ich dachte, dass die inzwischen etwas schäbig wirkende Anlage nun vielleicht wieder Auftrieb bekommen würde. In diesem Frühling rückten auch tatsächlich Bagger an und rissen erst den mehrere Meter hoch überwucherten Zaun ab, entfernten die Begrenzungen der Weiden und machten dann den Außenplatz dem Erdboden gleich. Ein neuer Zaun kam, und kurze Zeit darauf wurde er neu bepflanzt. Allerdings riss man daran anschließend ein Nebengebäude ab, und kurz darauf begann man mit der Demontage des Hallendachs. Da schwante mir schon, dass es hier um keine Sanierung ging, aber ich kenne mich mit sowas nicht aus.

Seit letzter Woche stehen nur noch ein paar Fragmente der äußeren Grundmauern, geschützt von einem Bauzaun mit Asbest-Warnschildern daran. Und natürlich der chice, neue Zaun an der Rückseite der Anlage – was auch immer der zukünftig abschirmen soll. Ich habe die Befürchtung, dort bald einen Industriekomplex zu sehen, und der Gedanke macht mich unrund, obwohl es mir völlig egal sein könnte, schließlich komme ich nur noch selten dort vorbei.

Aber dieser Stall ist so etwas wie der Ur-Quell meiner Kindheits- und Jugendsehnsüchte, und ihn verschwinden zu sehen, hat etwas Unangenehmes, obwohl ich jene Illusionen von damals schon vor Jahrzehnten beerdigt habe. Möglicherweise hat ein kleiner Zombie-Traumteil überdauert, und jetzt gibt es ein ordentliches Nach-Ziepen? Phasenweise träume ich immer noch viel von Pferden, aber das sind keine schönen Träume, weshalb ich gespannt bin, ob sie sich zusammen mit Gut Haller in Luft auflösen werden.