
Inflation der Geschichten
Am Wochenende hat mich mal wieder die Nostalgie überkommen, weil ich durch einen Zufall auf eine meiner Lieblingsserien als Kind gestoßen bin: Der Mann in den Bergen. Diese Serie hat mich stark geprägt. Ich wollte immer schon mit Tieren in der Wildnis leben, hatte das aber über viele Jahre hinweg vergessen – oder für nicht praktikabel gehalten.
Dank der Algorithmen der Videoportale wurden mir noch andere Serien und Filme aus derselben Zeit in Erinnerung gerufen, zum Beispiel „Der lange Treck“. Ich bin ein Kind der Western, soviel ist klar. Auch mein damaliges Lieblingsbuch, „Walt Disneys beste Geschichten“, war voll von Erzählungen aus dem Wilden Westen. Diese damalige Mode hatte natürlich mit der ungeschlagen produktiven Film- und Fernsehindustrie in den USA zu tun, und mit der Vorreiterschaft unserer amerikanischen „Befreier“ – alles schwappte über den großen Teich nach Deutschland.
Wenn man die deutsche Serienlandschaft mit der heutigen vergleicht, ist die Veränderung wirklich drastisch. Ich erinnere mich an meine Verzweiflung, als ich einmal eine Folge von „Der lange Treck“ verpasste. Heute kann man sich das Drama nicht mehr vorstellen. Wir konsumieren die einzelnen Episoden einer Serie wann wir wollen und so oft wir wollen.
Meine Mutter erzählte mir einmal von einer Familie in ihrer Nachbarschaft, die damals, als meine Mutter noch ein Kind war, als erste einen Fernseher besaß. Schwarzweiß, aber richtig groß. Alle Kinder der Straße versammelten sich abends regelmäßig dort am Fenster, um mitzuschauen. Manchmal wurde ihnen sogar großzügig das Fenster geöffnet.
Heute haben wir eine unglaubliche Auswahl an Geschichten jederzeit und an jedem Ort sofort verfügbar. Als Buch, als Serie, als Film oder als Computerspiel, wenn wir es interaktiv genießen wollen. Klar gibt es immer noch Trends und Hypes, aber mindestens ebenso viele Nischen. Wer einen Historienroman lesen möchte, muss ihn nicht erst in einer Buchhandlung bestellen, nur weil Mystery und Mommy Porn gerade angesagter sind. Tatort und Inspektor Barnaby kann man jederzeit auf Youtube ansehen, wenn man zwischen Amazon Prime, dem Disney Channel und dem Fernsehgarten einfach nichts findet.
Die Frage ist, was die heutige Überbefriedigung unseres menschlichen Grundbedürfnisses nach Geschichten mit uns macht. Ein Effekt ist sicherlich, dass reine Nachrichten kaum noch von Interesse sind. Es sei denn, sie können in Sachen Sex, Blood and Gore mit Game of Thrones mithalten und haben keinen allzu komplexen Hintergrund, sonst zappen wir nämlich gedanklich weiter. Ähnlich verhält es sich mit Produkten, Marken und Unternehmen, wenn wir sie nicht mit dem spannenden Leben von Stars, Influencern oder fiktionalen Helden verknüpfen können.
Da mich Marketing nicht mehr so interessiert, beschäftigt mich aber eher, inwiefern uns in jungen Jahren konsumierte Fiktion heute noch prägt. Meine älteste Nichte, die jetzt Anfang 20 ist, trägt ganz bestimmt noch den Stempel von Hannah Montana und High School Musical. Die Jüngere betreibt seit Jahren allnächtliches Binge-Watching aller erdenklichen Serien. Es reicht von den Bergrettern bis zu den Vampire Diaries und Haus des Geldes. Ich bin mir nicht sicher, ob irgendetwas davon tiefere Spuren bei ihr hinterlässt. Garantiert nicht so wie bei mir damals, als das begrenzt Verfügbare noch intensiv und mit dem Nachhall und der Vorfreude einer ganzen Woche erlebt wurde.
Vielleicht ist für die heutigen Kinder aber genau deswegen die Realität das, was viel nachdrücklicher und damit auch prägender erlebt wird? Denn echte, erzählenswerte Erlebnisse werden unter dem Berg an Fiktion zu etwas Besonderem. Sind deshalb alle so wild auf Reality Shows und Youtuber und deren angeblich wahres Leben mit ganz normalen Wurzeln? Ist Fan-Fiction deshalb immer noch so populär?
Ich erinnere mich an die Mystery-Serie, die 1Live vor Monaten produziert hat, von der man anfangs noch dachte, eine ganz normale Youtuberin erlebte das alles tatsächlich. So ein Blair Witch Ding. Eigentlich wüsste ich gerne, wie sich da die Zahlen entwickelt haben, als schließlich klar war, dass es sich um Fiktion mit Schauspielern handelte. Ich denke, ich werde dem mal nachgehen.
Danke für das Foto, Martin Reisch

