Grimoire

Gedeih und Verderb

Was aus uns wird, entscheidet neben unseren Genen auch unser Umfeld, das wissen wir spätestens seit der Zwillingsforschung. Mit „Umfeld“ ist außer diversen Umwelteinflüssen auch unser Sozialgefüge gemeint, und all diese Faktoren wirken ein Leben lang auf uns ein. Sie sind das, was wir aktiv beeinflussen können (natürlich mit Einschränkungen), und damit liegt unser „Schicksal“ tatsächlich zumindest zu einem gewissen Teil in unseren eigenen Händen.

Wir können also jeden Tag einen Richtungswechsel anstoßen – im Kleinen zunächst, aber Wege entstehen ja bekanntlich beim Gehen. Trotzdem ist Veränderung für die meisten Menschen etwas, vor dem man sich lieber drückt. Wir sind Gewohnheitstiere, manche mehr, manche weniger, und am schwersten tun sich diejenigen, denen es sowieso gerade nicht so gut geht. Das ist faszinierend, denn man sollte doch meinen, dass ein gewisser Leidensdruck motiviert. Ist aber nicht so, jedenfalls nicht immer. Wenn wir bereits zu lange in einem Umfeld leben, das uns nicht wachsen und gedeihen lässt, sondern uns im Gegenteil schadet, verhalten wir uns wie ein Hund in einem berühmten – und ziemlich grausamen – Experiment des amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman.

Folter, Depressionen und erlernte Hilflosigkeit

Seligman untersuchte das Phänomen der sogenannten „erlernten Hilflosigkeit“ (inzwischen überholt) im Zusammenhang mit Depressionen. Es gibt offenbar mehrere Varianten seines Versuchs. Ich hörte zuerst von dem folgenden Aufbau: Ein Hund wird in einem Käfig gesperrt und erhält, sobald er sich in einem bestimmten Bereich des Käfigs hinsetzt oder hinlegt, einen Stromschlag. Die natürliche Reaktion des Hundes ist die „Flucht“ aus diesem Bereich des Käfigs und in der Folge eine Vermeidung desselben. Doch die „Gefahrenzone“ wird stetig vergrößert, bis dem Hund schließlich kein Ausweichen mehr möglich ist. Am Ende gibt er auf und erträgt die Schmerzen, die ihm zugefügt werden. Das ist aber noch nicht alles: Wird dem armen Tier irgendwann eine Fluchtmöglichkeit geboten, indem man die Käfigtür öffnet, nimmt es diese Möglichkeit nicht wahr, sondern es bleibt liegen und erduldet die Stromschläge weiterhin.

Das falsche Rudel

Man muss nicht unter klinischen Depressionen leiden oder in einer ähnlich grausamen Situation sein wie die Hunde in Seligmanns Versuch, um diese Passivität angesichts permanenten schlechten Erfahrungen zu kennen. In einem Umfeld zu leben (egal ob im Beruf oder im Privatbereich), in dem man sich – aus was für Gründen auch immer – sehr unwohl fühlt, reicht, um die Auswirkungen negativer Dauerreize zu spüren. Das Szenario des hässlichen jungen Entleins drängt sich in diesem Zusammenhang auf: Auch hier durchlebt ein bemitleidenswertes Tier eine Reihe quälender Erfahrungen, bis es schließlich – endlich – die richtige Tür öffnet und dort ankommt, wo es hin gehört. Wo es wachsen, gedeihen und aufblühen kann.

Clarissa Pinkola Estés erzählt in „Women Who Run With the Wolves“ eine leicht abgewandelte Form von Andersens bekanntem Märchen und weitet die Schwan-Enten-Metapher auf weitere Tiere aus, um das Problem des falschen „Rudels“ auf amüsante Art zu illustrieren.

„Sometimes I have to move to other animal metaphors. I like to use mice. What if you were raised by the mice people? But what if you’re, say, a swan. Swans and mice hate each other’s food for the most part. […] What if you, being a swan, had to pretend you were a mouse? What if you had to pretend to be gray and furry and tiny? […] What if you tried to walk like a mouse, but you waddled instead? What if you tried to talk like a mouse, but instead out came a honk every time? Wouldn’t you be the most miserable creature in the world?“

„Not all those who wander are lost“ (Gandalf)

Der kleine Schwan findet sein Glück nur, weil er nicht wie einer von Seligmanns Hunden ist, sondern immer wieder flüchtet und weiter sucht. Selbst dann, wenn er mit seinen Kräften am Ende ist und ein paar Mal sogar aufgeben möchte. Und obwohl er nicht einmal weiß, wonach er sucht. Wer die Hoffnung nie verliert, wird unweigerlich belohnt. Hat ja auch Lady Gaga kürzlich erst verkündet, nachdem sie – das einst gemobbte Mädchen – ihren Oscar in den Händen hielt.

„It is worse to stay where one does not belong at all than to wander about lost for a while. It is never a mistake to search for what one requires. Never.“
– Clarissa Pinkola Estés, Women Who Run With the Wolves

Where do we go now, sweet child o' mine...