Foto von Hanne in Norwegen
Grimoire

Dunkelheit als warme Decke

Die Farbe, die ich für meine Wände auserkoren habe, ist toll zu verarbeiten, aber leider überhaupt nicht ergiebig, weshalb sie mir trotz vermeintlich großzügiger Kalkulation schnell ausgegangen ist. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis der Nachschub kommt, was mich ärgert, weil ich gerade so schön in Fahrt war. Einer meiner Nachbarn fragt, warum ich denn keine weiße Farbe genommen hätte, die sei schließlich im lokalen Baumarkt erhältlich. Und überhaupt, wer streicht denn seine Wände dunkel? In diesen Breiten? Höchstens Menschen mit Palästen und riesigen Räumen. „Du wirst eine Höhle haben!“ amüsiert er sich, nicht ahnend, wie sehr mich diese Aussicht freut.

Anlässlich dieser Unterhaltung ist mir einmal mehr bewusst geworden, dass in meinem engeren Bekanntenkreis kaum jemand meine Vorlieben teilt. Zwar gibt es da draußen viele Menschen mit dunklen Wänden, Menschen, die es nach Norden zieht, die Mondlicht auf Schnee toller finden als Sonne auf weißem Sandstrand. Das Internet ist voll von ihnen, Dark Academia und Dark Cottagecore sind nur zwei der Trends, die das beweisen. Aber ich kenne nur wenige davon persönlich. Abgesehen von meiner Tante Hanne in Kopenhagen (die mir das obige Foto aus Norwegen geschickt hat) leben alle meine Freunde und Verwandten südlich von mir und kämen im Traum nicht auf die Idee, das zu ändern. Selbst die Leute, die ich hier kennenlerne, sehnen schon jetzt den Frühling herbei, eine Jahreszeit mit mehr Menschen, mehr Licht und mehr Wärme.

Ich werde mich ganz sicher auch freuen, wenn der Frühling kommt, aber käme er jetzt, wäre ich schwer enttäuscht. Meine Energiespeicher füllen sich im Dunkeln, und der Akku ist noch lange nicht voll.



Danke für das Foto, Hanne Guldborg

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