
Drei Monate mit Gandalf
Jetzt ist er schon drei Monate hier, der große graue Hund. Ich erinnere mich genau an den Moment früh morgens im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens, als ich ihn das erste Mal sah, völlig fertig in seiner riesigen Box, die auf keinen Gepäckwagen passte. Er roch wie ein wildes Tier, leckte meine Finger durch das Gitterfenster und verschlang gierig die Entenstreifen, die ich als Eisbrecher mitgebracht hatte. Sie wären nicht nötig gewesen.
Die viel zu lange Zeit, bis ich dann endlich mit ihm auf dem Rücksitz unterwegs nachhause war, spare ich an dieser Stelle aus. Es war purer Stress für alle Beteiligten, und ich war stinksauer auf die Tierschutzorganisation, die ihn vermittelt hatte. (Nicht zum letzten Mal, wie sich bald herausstellte.) Aber die Autofahrt verlief dann so entspannt, dass ich das vorangegangene Chaos schnell verdrängt habe. Auch das erste Zusammentreffen mit Tonks verlief prima. Der Rest von Tag 1 verging mit kurzen Ausflügen in den Garten und Schlafen.
In den folgenden Tagen präsentierte sich Gandalf sehr nervös und ängstlich. Es war offensichtlich, dass er misshandelt worden war und mit seinen knapp vier Jahren noch nichts gelernt hatte. Zu allem Überfluss musste ich dann auch noch mit ihm zum Tierarzt, weil man mir nicht sagen konnte, ob die Fäden seiner Kastration selbst auflösende waren. Diesen zusätzlichen Stress hätte ich ihm gerne erspart. Natürlich fand man bei der Untersuchung prompt noch eine Auffälligkeit, so dass der arme Kerl für einen Ultraschall gefühlte Ewigkeiten auf dem Rücken liegen musste. Das hat er allerdings vorbildlich über sich ergehen lassen. Und das zieht sich bei ihm so durch: Er macht immer genau das Gegenteil dessen, was man erwartet.
Man hat ihn mir als sehr ruhigen Hund, der sich mit einfach allen verträgt, vermittelt, besondere Eigenschaften gäbe es keine. Er sei nur eben nicht erzogen, was bei einem Nordischen, noch dazu einem bereits erwachsenen, immer eine Challenge bedeutet. Und er sei etwas übergewichtig. Dass das nicht stimmte, sah ich zwei Tage vor seiner Ankunft auf einem kurzen Video. Und dieses Video gab mir zum ersten Mal ein etwas mulmiges Gefühl. Denn der graue Huskymix bewegte sich wie ein Wolf. Am liebsten hätte ich damals alles wieder abgesagt, denn ich befürchtete einen American Wolfdog unter seinen Vorfahren.
Dieser Verdacht hat sich bis heute nicht ganz gelegt, aber Gandalf ist ein eher unterwürfiger Hund, weshalb Machtproben zum Glück ausblieben. Probleme gibt es dennoch genug, und einige davon halten sich hartnäckig. Mit seiner Verträglichkeit ist es nämlich nicht weit her, und weil er sich inzwischen recht sicher in seiner neuen Welt fühlt, sind die täglichen Spaziergänge ganz schön anstrengend. Rüden sind für ihn ein No-go, und kleine Hunde betrachtet er – wie viele Huskies und Malamutes – als Beute. Vor allem wenn sie quietschen oder ihn anbellen. Dann gerät er völlig außer sich. Gandalf ist groß und in seinen besten Jahren. Er hat eine enorme Kraft. Wenn man noch einen zweiten Hund an der Leine hat, sind Begegnungen mit seinen erklärten Feinden oder potenziellen Opfern kein Vergnügen. Und dann gibt es ja auch noch Katzen. Und Eichhörnchen. Und Hühner. Und Kaninchen.
Das zweite echte Problem ist Gandalfs Verlustangst. Er kann selbst mit Tonks zusammen keine fünf Minuten ohne einen menschlichen Bezugspunkt im Haus bleiben. Sonst geht irgendwas zu Bruch, verschwindet spurlos oder verteilt sich großzügig über alle Räume. Erst waren es Schuhe oder Socken, dann Zeitungen und Briefe, dann Bücher und schließlich, als alles andere in Sicherheit gebracht war, das Mobiliar. Er hat in zwanzig Minuten meiner Abwesenheit eine Ledercouch gehäutet. Jetzt muss also immer ein Hundesitter her, wenn ich ihn irgendwo nicht mit hin nehmen kann. Glücklicherweise hat sich herausgestellt, dass er es im Auto eine Weile aushält, wenn Tonks dabei ist, und der Sommer ist ja nun vorbei. Sonst könnte ich weder einkaufen noch meinen Vater in der Beatmungs-WG besuchen. Undenkbar.
Wir üben also fleißig, und man sagt, dass Hunde aus dem Tierschutz in ihren ersten drei Monaten im neuen Heim mitunter ein völlig anderes Verhalten an den Tag legen als ihnen normalerweise zu eigen ist. Ich bin gespannt und hoffe sehr, dass wir seine größeren Baustellen bald in den Griff bekommen, denn sie machen den Alltag mit ihm wirklich etwas mühsam.
Zugegebenermaßen hatte ich mich aber auch ganz bewusst für eine Herausforderung entschieden anstatt für einen kleineren, leichter zu handelnden Hund von einer Pflegestelle, den man vorab besser hätte einschätzen können. Deshalb bin ich dankbar für alles, was ich im Umgang mit diesem komplizierten Dickschädel schon gelernt habe. Gandalf ist genau das, was ich in den letzten Monaten brauchte, um die Gedanken an Leid und Tod in den Hintergrund zu drängen.
Außerdem hat er auch ganz großartige Eigenschaften. Er ist wie alle Hunde mit Huskygenen wahnsinnig komisch und auf Reisen total unkompliziert. Die lange Autofahrt nach Dänemark hat er trotz seines starken Bewegungsdrangs ohne jedes Gemaule mitgemacht. Er hat eine Engelsgeduld mit Tonks, die eine unglaubliche Zicke sein kann. Seine Scheu vor Fremden hat sich überraschend schnell gelegt. Zeitweise geht er schon fantastisch an der Leine. In mancher Hinsicht kann ich gar nicht glauben, dass er erst seit Ende Juli hier ist.
Wenn ich an die ersten drei Monate mit Tonks zurück denke, die mich damals auch ganz schön an meine Grenzen gebracht hat, dann macht sich Gandalf hervorragend. Die nächsten drei Monate werden wahrscheinlich erst so richtig zeigen, wohin unsere gemeinsame Reise geht. Hoffentlich vergesse ich Ende Januar nicht, noch einmal ein Resümee zu ziehen.

