
Die letzte Mission
Wir hatten etwas Asche in einer kleinen Filmdose zum Verstreuen am Strand und wollten einen Stein aus Slipshavn für das Grab. Die Zeit war knapp, und die Wettervorhersage kündigte Regen und ungemütliche Herbsttemperaturen an. Aber wir bekamen tatsächlich „unser“ Ferienhaus in der Sommerbyen für das Wochenende. Und obwohl auch in Dänemark erste Risikogebiete aufpoppten, ließ man uns völlig unbehelligt einreisen, sogar mit dem grauen Hund, der streng genommen noch keine EU-Grenze hätte überschreiten dürfen.
Wir fuhren Freitag Mittag los. Das Reisewetter war perfekt. Mild, bewölkt, trocken. Die Hunde quengelten kein einziges Mal, und selbst der obligatorische Stau am Elbtunnel hielt sich in Grenzen. Abends um 10 kamen wir an, deutlich weniger gestresst und erschöpft als normalerweise nach dieser Strecke. Die Luft war noch warm, und kurz fühlte es sich so an, als wären wir nie weg gewesen, als wäre alles wie immer, nur ein weiterer Urlaub in Nyborg.
Auch der nächste Morgen strafte die Wettervorhersage Lügen. Schon ganz früh, als ich das erste Mal mit den Hunden den Strand entlang ging, war es angenehm warm und trocken. Im Laufe des Vormittags kam dann sogar die Sonne raus. Wir konnten unser Glück kaum fassen und machten uns gleich auf den Weg nach Slipshavn, wo wir nach einem passenden Grabstein Ausschau halten wollten. Wir hatten keine Ahnung, nach was wir eigentlich suchten. Einen großen Hühnergott? Einen Stein mit einer besonderen Form, wie eine Robbe oder ein Vogel oder ein angedeutetes Herz? Etwas Ausgefallenes? Im Grunde glaubten wir beide, dass wir es einfach wissen würden, wenn wir den richtigen Stein sähen.
Und so kam es dann auch. Wir befanden uns ziemlich genau unterhalb des Leuchtturms, am unwegsamsten Teil der Strecke und am weitesten entfernt von mit dem Auto erreichbaren Stellen, als meine Schwester auf einmal sagte: „Guck mal.“ Als ich zu ihr rüber sah, wusste ich sofort, welchen der vielen großen und kleinen Brocken sie meinte. Es war ein grauer Glücksstein mit einem breiten, hellen Band, größer als mir transportabel erschien. Mein erster Gedanke war „Verdammt, Mama, warum genau dieser und dann auch noch ausgerechnet hier?“, und ich wollte schon sagen „Vergiss es, den kriegen wir hier niemals weg!“ Aber dann ließ sich Tonks direkt neben dem Stein nieder, legte den Kopf darauf und weigerte sich, wieder aufzustehen. Es gab keinen Zweifel. Dieser musste es sein.
Wir beratschlagten. Der Stein ließ sich zumindest anheben. Und zum Glück hatten wir Zeit, denn es war ja erst Samstag. Außerdem regnete es nicht, also war es nicht so glitschig am Strand, und man konnte auch mit einem großen, schweren, unhandlichen Stein auf dem Arm, ohne genau zu sehen, wohin man seine Füße setzte, langsam aber einigermaßen sicher vorankommen. Ich zog mit dem grauen Hund los und kundschafte einen möglichst kurzen Weg zu einem für das Auto zugänglichen Punkt aus, während Ari und Tonks den Stein bewachten. Vielleicht könnten wir eine Art Schubkarre organisieren oder den Leuchtturmwärter bestechen, um mit dem Auto näher heran zu kommen?
Am Ende ging aber alles viel leichter als gedacht. Es dauerte ein bisschen, doch am späten Nachmittag war der Stein wohlbehalten in unserem Ferienhaus. Und als es abends dunkel und stürmisch wurde und wir es uns mit Kerzenlicht und Kaminfeuer gemütlich machten, fing er an zu glitzern.
Auch am Sonntag schien wieder die Sonne, und weil wir das Wichtigste schon erledigt hatten, fühlte es sich beinahe an wie ein Tag Ferien. Wir gingen am Strand spazieren, schwelgten in Erinnerungen und beschlossen dann, Mamas Asche erst kurz vor unserer Abreise am späten Montagmorgen zu verstreuen, damit sie noch möglichst viel dieser schönen Zeit mit uns zusammen wäre.
Den Montag Vormittag verbrachten wir mit Packen und Putzen, denn um 10 Uhr musste das Haus geräumt sein. Als wir fertig waren, das Auto beladen hatten und den Hausschlüssel zurück in den Safe gelegt hatten, machte ich mich auf, um die Hunde für die lange Fahrt müde zu laufen. Meine Schwester fuhr währenddessen zu Kvickly, um Brun Farin und Salzlakritz für die Daheimgebliebenen zu besorgen. Wir hatten uns gerade getrennt, als es anfing zu regnen. Ich stand mit den Hunden am Strand unter den Kiefern mit der seit Urzeiten dort hängenden Schaukel, auf der Mama im letzten Sommer noch einmal unbeschwert und glücklich gewesen war. Es klingt theatralisch, aber auf einmal war es kalt und grau, und mir kam es vor, als ob da oben jemand zu Weinen angefangen hätte angesichts des bevorstehenden Abschieds für immer. Und dann hat es mich richtig erwischt. Ich konnte fast eine halbe Stunde lang nicht mehr aufhören zu Heulen.
Später, als Ari und ich Mamas Foto an den Baum mit der Schaukel gepinnt hatten, damit sie noch eine Weile aufs Meer blicken konnte, ging es mir seltsamerweise wieder besser. Wir zogen die Schuhe aus, stiegen in die kalte Ostsee und öffneten die Filmdose mit der Asche. Der Wind trug sie landeinwärts, nicht aufs Meer, aber das sollte wohl so sein, wer weiß, wo sie noch hin wollte. Es war ein trauriger Moment, aber die volle Wucht der Erkenntnis war vorbei, jedenfalls bei mir. Im Auto kam die Trauer noch ein paar mal hoch, und zuhause auch, aber die Stimmung ist jetzt anders, abstrakter vielleicht.
Ich hatte mich sehr auf Dänemark gefreut, aber auch ein bisschen Angst gehabt vor diesem Trip. Vor der zu erwartenden Trauer. Davor, dass wir keinen guten Stein finden würden. Dass wir mit einem faulen Kompromiss nachhause kämen, weil der perfekte Stein nicht gefunden würde. Oder – noch schlimmer – weil wir den perfekten Stein fänden, ihn aber nicht transportieren könnten. Ich hatte auch Sorge, den Hunden zwei Tage im Auto zuzumuten, für nur zwei Tage am Meer, die womöglich so verregnet sein würden, dass sie wenig davon hätten. Ich hatte Bedenken wegen Corona, und dass wir zuhause in Quarantäne müssten. Dass am Ende alles unbefriedigend wäre, und dass Ari und ich darüber in Streit geraten würden.
Weil aber alles so einfach ging, geradezu unheimlich einfach, werde ich das Gefühl nicht los, dass jemand seine Hand über uns und unsere Mission hielt. Weil wir den Stein so leicht fanden, praktisch auf Anhieb, und uns dabei absolut sicher waren. Weil Hin- und Rückfahrt komplikationslos und entspannt waren. Weil das Wetter perfekt war, in jedem einzelnen Moment, so dass wir die Reise sogar genießen konnten, obwohl es natürlich auch Tränen und Wehmut gab. Es hat einfach alles gepasst und sich richtig angefühlt. Farvel, Mama. Farvel, tak. Danke für alles.

