Der Papierpalast
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Der Papierpalast

Es ist mal wieder Zeit für ein Lesefazit, denn ich habe in der letzten Zeit viel Glück mit Büchern. Der erste Roman, den ich hier auf Ærø gelesen habe, war „Der Papierpalast“ von Miranda Cowley Heller. Ein aktueller Bestseller, den ich mir aufgrund des Preises normalerweise nicht gegönnt hätte, jedenfalls noch nicht. Es macht mich nach wie vor bockig, wenn die Kindle-Variante fast genauso viel kostet wie das gebundene Buch, ohne das der Autor mehr davon hätte. Aber sei es drum, es war jeden Cent wert. Ich habe die Geschichte verschlungen.

Es geht um eine Frau Anfang 50, Elle, die sich zwischen ihrer glücklichen Ehe samt Kindern und dem Mann, den sie immer schon geliebt hat und mit dem sie ein dunkles Geheimnis verbindet, entscheiden muss.

Dieses dunkle Geheimnis verbindet Elle und ihren Jugendfreund Jonas ebenso wie es sie trennt. „It’s complicated“ – in diesem Fall tatsächlich sehr. Das Geheimnis drängt – genauso wie die Gefühle der beiden füreinander – nach oben. Es will raus. Wie das oft so ist, wenn etwas lange genug gärt und sich die Konstellationen auf dem Schachbrett des Lebens ändern. Plötzlich muss man es jemanden unbedingt noch erzählen, bevor er stirbt. Plötzlich kann man es endlich erzählen, weil jemand gestorben ist. Oder aber, man will es einfach nicht länger unterdrücken, weil man sonst daran zugrunde geht.

In „Der Papierpalast“ ist all das wunderbar verwoben, und die Art und Weise, wie Miranda Cowley Heller die Geschichte langsam und sorgfältig entflechtet, ist wirklich kunstvoll. Die Protagonisten bewegen sich in zahlreichen Rückblenden durch eine Art Boho-Milieu – Künstler, Intellektuelle, schöne Frauen, rebellische Frauen, musisch begabte, aber leider schwache Männer, wohlhabende Männer, charismatische Männer. Und dann die beiden grundverschiedenen, aber sehr guten Kerle, zwischen denen die Heldin sich entscheiden muss. Wie sie selbst sagt: Beide sind richtig, und beide sind falsch.

Der Hauptschauplatz ist die traditionelle Sommerresidenz einer gut situierten New Yorker Familie. Eiswasserseen, Wald, der Ozean, Cocktailparties und Barbecues mit den Nachbarn. Schöner Schein, Lästereien, Seitensprünge in den Dünen. Eine attraktive Kulisse für die Erzählung.

Die Story übergreift mehrere Generationen, denn die Tragödie, die sich rasch abzeichnet, benötigt einen Prolog. Eine nachvollziehbare Erklärung dafür, warum Frauen tolerieren, schweigen, einander sogar schaden (hier speziell Mütter ihren Töchtern) und sich im entscheidenden Moment unterlassener Hilfeleistung strafbar machen. Der Witz dabei ist, dass garantiert jeder weibliche Leser ohne solch eine Erklärung auskommen müsste. Wir alle sind wissend. Aber wir leugnen das Problem vor uns selbst, wir verharmlosen, bagatellisieren oder betrachten es als normal. Denn so haben wir es von klein auf beobachtet und gelernt. Konfliktvermeidung, falscher Altruismus und Abhängigkeiten machen selbst heute noch einen erheblichen Teil des Frauseins aus, ganz besonders des Mutterseins. Wie fatal das vor allem langfristig ist, springt einem in diesem Buch ins Auge, stellenweise wie Sand und andernorts wie glühende Messer.

Falls sich das alles ein bisschen gespoilert oder klischeehaft anhören sollte: Die Geschichte folgt keineswegs einem simplen oder altbekannten Muster. Sie ist so komplex wie die Gefühle und Dynamiken zwischen Freunden, Eltern, Kindern, Geschwistern und Liebenden nur sein können. Vor allem ist es der Autorin meisterhaft gelungen, genau den richtigen passenden Ton zu treffen. Die schockierenden Momente und die drastischen Vorkommnisse werden beinahe rational – ohne Drama und Tränendrüsenappell – geschildert. Schließlich geht es doch eigentlich nur um eine Lovestory, eine Frau zwischen zwei Männern. Dieser Trick erspart einem beim Lesen vieles, wirkt aber nach Ende der Lektüre spürbar nach. Und genau das ist die Realität. Traumata. Tragödien. Zerstörte Leben und Lieben. Die Normalität.