Bäume bringen Glück
Grimoire

Der Glücksbaum

Es ist bald schon mehr als ein halbes Jahr her, dass ich mein Büro im Dreikönigenviertel angemietet habe. Der tatsächliche Einzug hat sich länger hingezogen als geplant, weil es in meiner Familie unmittelbar nach der Unterzeichnung des Mietvertrages drunter und drüber ging. Aber ich weiß noch genau, dass gleich zu Anfang neben ein paar obligatorischen Paletten eine Glückskastanie eingezogen ist.

Die Pflanze hatte eine tolle Größe bei einem verhältnismäßig kleinen Preis und sah mit ihrem langen, geflochtenen Stamm wie ein kleiner Baum aus. Der Name gab den Ausschlag, also wurde die Glückskastanie, die man auch Money Tree oder Wilder Kakaobaum nennt, das erste, verheißungsvolle Lebewesen in meinem Büro.

Der geflochtene Stamm einer Glückskastanie sieht toll aus, aber ich erfuhr schnell, was ich mir eigentlich auch selbst hätte zusammenreimen können: Die Verflechtung führt langfristig dazu, dass sich die Pflanze selbst erwürgt. Bei guten Bedingungen wächst sie nämlich nicht gerade langsam, und die einzelnen Stämme erdrücken sich irgendwann gegenseitig. Man soll sie daher möglichst früh entflechten.

Nun war mein Bäumchen schon recht groß und die fünf verschiedenen Stämme bereits ansatzweise verholzt. Bei einem ersten Versuch des Entflechtens entpuppte sich das Gebilde als viel stabiler als gedacht, weshalb ich entmutigt aufgab. Ich wusste, Gewalt nötig sein würde, wenn ich die einzelnen Stämme wirklich entflechten wollte, und vielleicht würde es gar nicht gelingen und die schöne Pflanze zu Bruch gehen. Undenkbar, da sie doch als eine Art Glücksbringer angeschafft hatte.

Ich prokrastinierte die Sache also, obwohl ich wusste, dass das Unterfangen mit jedem Tag schwieriger werden würde, denn die Stämme wurden langsam, aber stetig länger, dicker und stabiler. Zuletzt konnte ich den Baum nur noch mit schlechtem Gewissen angucken. Meine Glückskastanie wurde zum allgegenwärtigen stummen Vorwurf eines leidenden Lebewesens.

Gestern habe ich es schließlich nicht mehr ausgehalten und mir ein Herz gefasst. Es erforderte einiges an Kraft und war für alle Beteiligten schmerzhaft. Ich klemmte mir mehrmals die Finger, und ein paar der weichen Triebe in der Krone knickten und brachen bei der langwierigen Prozedur. Einer der fünf Stämme war nicht mehr zu retten, aber die übrigen vier werden mir das Ganze hoffentlich auf lange Sicht verzeihen. Sie sind jetzt frei, haben Luft und sehen überraschenderweise sogar ganz cool aus. In diversen Foren hieß es, dass Glückskastanien nach dem Entflechten unansehnlich seien, aber ich finde die gewundenen Stämme richtig chic.

Unmittelbar nach dem Entflechten konnte man dem Bäumchen ansehen, wie brutal es behandelt worden war. Aber heute morgen hat es sich schon wieder aufgerichtet, und ich bilde mir ein, in der Krone schon neue Kraft zu sehen. Heute wird noch ein neuer Topf besorgt. Dann kann das Glück hier wieder wachsen. Und diesmal ohne im Voraus festgelegtes Limit.

Danke für das Foto, Elisabeth Arnold