Alraune
Grimoire

Der 42. Sinn

Es ist eine verspätete Erkenntnis. Ich habe etwas nie richtig zu Ende gedacht, obwohl es zu meinen Lieblingsthemen zählt. Eigentlich ist es eine Schnittmenge mehrerer Lieblingsthemen. Dass ich gerade jetzt einen Aha-Moment hatte, liegt am aktuellen Gemetzel in meinem Garten.

Mich interessieren grundsätzlich Sinneswahrnehmungen, und ich finde es spannend, dass die Wissenschaft immer mal wieder neue Sinne entdeckt und vermeintliche Pseudowissenschaft dann plötzlich zu Wissenschaft wird. Besonders interessant finde ich die Sinne von (nichtmenschlichen) Tieren, die sich oft unserer Vorstellungskraft entziehen (etwa der achte Sinn der Wale) und daher geflissentlich übersehen oder unterschätzt werden. Bei Pflanzen ist das noch extremer.

Die vorherrschende Meinung vieler Menschen ist, dass Pflanzen gar keine Sinne haben. Schließlich haben sie weder ein Gehirn noch ein zentrales Nervensystem. Etwas vergleichbares wie Mund, Augen, Ohren, Hände und all das fehlt (in den allermeisten Fällen) sowieso. Man ist sich zwar bewusst, dass die Mehrheit der Pflanzen irgendwas mit Licht macht und sich zur optimalen Ausnutzung desselben immerhin rudimentär „bewegt“. Und Temperatur müssen Pflanzen auch irgendwie „wahrnehmen“, wie sonst erklären sich die verschiedenen Wachstumsphasen und der völlig unterschiedliche Anblick unserer Umwelt im Winter und Sommer? Oder liegt das „nur“ an uralter Programmierung auf Zeitabläufe und Jahreszeiten? Ist eine innere Uhr Zeitgefühl, Konditionierung (immerhin auch nur durch Reize möglich) oder pure, vorab festgelegte und fix eingebaute Information? Und läuft das bei Mensch, Tier und Pflanze identisch?

Seit man weiß, dass sich Bäume mithilfe eines Pilznetzwerks im Boden miteinander unterhalten, und dass der herrliche Geruch frisch gemähten Grases eigentlich Ausdruck von Schmerz ist (Quelle), wächst die Aufgeschlossenheit gegenüber eines Konzepts von pflanzlicher Intelligenz und Bewusstsein. Aber wie kann das eigentlich funktionieren, ohne Gehirn und Nerven? Es beschämt mich, aber ich habe darüber tatsächlich das erste Mal richtig nachgedacht, als ich heraus finden wollte, wie ich die hier schon oft erwähnte Eichel, die ich seit über zwei Jahren mit mir herumtrage, zum Keimen bringen kann. Ich erfuhr, dass ich sie ein paar Wochen in den Kühlschrank legen muss, weil Eicheln einen Kältereiz, einen simulierten Winter, benötigen, um auszutreiben. Das klang logisch. Aber woher „weiß“ eine seit Monaten vom Baum getrennte, praktisch vertrocknete Frucht, dass es kalt ist? Wie spürt die das?

An diesen Punkt hätte ich schon kommen können, als vor Jahren ein intelligenter Schleimpilz durch die Medien getrieben wurde. Der gehirnlose Einzeller faszinierte die Welt, weil er in Rekordzeit Wege durch ein Labyrinth fand und seitdem hilft, Verkehrswege, speziell U-Bahnlinien, zu planen.

Die Antwort liegt, wie könnte es anders sein, im Erbgut (Quelle). Bestimmte Gene werden je nach Temperatur aktiviert oder deaktiviert. Die Epigenetik hat ja längst bewiesen, dass Licht Gene an- und ausknipsen kann. Aber zumindest mir war nicht klar, dass das auch mit Temperatur funktioniert. Und dass man das durchaus als „Sinn“ definieren kann, begreife ich erst jetzt.

Erbgut speichert also nicht nur Informationen, sondern macht auch was mit ihnen. Das passt zu dem Fakt, dass eben nicht nur Information, sondern auch Wissen in der DNA landet – und mit ihr weitergegeben wird (unlängst hier thematisiert). Zumindest meiner simplen Logik zufolge müsste das dann auch für Sinneswahrnehmungen aka Gefühle gelten. Vor allem, wenn der entsprechende „Sinn“ direkt im Erbgut verortet ist.

Das träfe auf alles zu, was einen Zellkern und somit DNA hat. Menschen, Tiere, Pflanzen, Amöben. Jede einzelne Zelle eines solchen Organismus kann nicht nur autonom denken, sondern auch fühlen. Sehr, sehr rudimentär zwar, aber wir wissen, was ein Computer lediglich aus An und Aus, Nullen und Einsen machen kann. Kunstwerke, Romane, virtuelle Welten. Ich finde das sensationell. Vor allem, weil es so vieles erklären würde.

Ich höre an genau der Stelle mit Denken auf, an der es um potenzielle Sinneswahrnehmungen von Lebewesen geht, deren Herz nicht mehr schlägt und deren Hirnströme verebbt sind. Denn eine ganze Menge Körperzellen bleibt ja trotzdem noch eine Weile aktiv.