Gänsegeier
Grimoire

Das Los der Geier

Bei vielen Menschen wecken Geier negative Assoziationen. Als Aasfresser sind sie in der westlichen Welt (die von allem, was mit dem Tod zusammenhängt, entfremdet ist) mit unschönen Worten und Bildern verknüpft. In anderen Kulturen ist das völlig anders. Dort werden Geier dank ihrer Funktion als „Hygieneengel der Natur“ (ARD – W wie Wissen) verehrt.

In manchen Ländern wie z.B. Tibet sind sie bis heute für die Himmelsbestattung zuständig, weil Erdbestattung oder Feuerbestattung aufgrund von zu hartem Boden oder zu wenig Holz nicht in Frage kommen.

In Afrika liefern Geier den Rangern wertvolle Hinweise auf Wilderer, weil sie weithin sichtbar dort kreisen, wo illegale Jäger die Kadaver von Elefanten, Nashörnern & Co. zurück gelassen haben.

Die Erledigung einer für unser Ökosystem unverzichtbaren Aufgabe macht die Geier einerseits zu einer als unästhetisch, unsympathisch oder gar ekelerregend empfundenen Spezies und manchmal auch zum verhassten „Denunzianten“. Andererseits betrachtet man sie als heilige Tiere oder als symbolischen Mittler zwischen Leben und Tod. Sowohl die negativen wie auch die positiven Konnotationen haben für die Tiere einen hohen Preis. Sie sind vom Aussterben bedroht.

Wilderer in Afrika schießen Geier längst nicht mehr nur deshalb ab, weil die Vögel sie verraten, sondern auch weil Geierköpfe für religiöse Rituale immer beliebter werden. Ich hatte schon einmal geschrieben, dass ich vieles an Folk Magic mag, aber Ritual Work oder auch „alternative“ Medizin, die die Verwendung von Tierteilen erfordert, gehört definitiv nicht dazu. Schon gar nicht, wenn es sich um bedrohte Arten handelt und die Tiere lediglich zum Zweck der Verwendung in einer angeblich spirituellen Handlung getötet werden. Der aktuelle Hype um Geierköpfe ist einer der Hauptgründe für eine drastisch schrumpfende Geierpopulation in Afrika.

Hinzu kommt aber noch ein anderes Debakel. Und das hat mit Massentierhaltung zu tun. Und mit der Verwendung von Diclofenac. Diclofenac ist ein pharmazeutisches Mittel, das die meisten als schmerzstillenden und entzündungshemmenden Wirkstoff in Voltaren kennen werden. Aber es wird nicht nur gegen Hexenschuss und Arthritis bei uns Menschen eingesetzt, sondern auch bei Nutzvieh, damit Milch und Fleisch trotz aller Widrigkeiten in der Haltung in großen Mengen produziert werden können. Für Altweltgeier ist Diclofenac hochgiftig, und allein in Indien ging ihre Population innerhalb eines einzigen Jahres wegen des großflächigen Einsatzes dieses Medikaments um 99 Prozent zurück.

Bei uns sind Geier nicht sehr verbreitet. In unseren stark besiedelten und landschaftlich unkomplizierten Gegenden können andere ihren Job übernehmen: Krähen, Bussarde und privatwirtschaftliche Tierkörperbeseitigungsgesellschaften. Geier sind deswegen hierzulande schon allein mangels Präsenz nicht besonders populär. Ihr eingangs erwähntes schlechtes Image besorgt den Rest, weshalb diese faszinierenden Vögel in Deutschland einfach keine Lobby haben. Dabei bräuchten sie diese gerade dringend.

Kürzlich hatte ich mal wieder die klassische Diskussion um die Haltung von Wildtieren in Gefangenschaft. Das Geierproblem ist für mich ein gutes Beispiel, warum ich die Haltung von Wildtieren in Zoos, Wildparks oder ähnlichen Einrichtungen nicht grundsätzlich verdamme. Ich möchte jeder einzelnen Wildtierstation oder Falknerei, die Geier (artgerecht) hält und der Gesellschaft näher bringt, ein dickes Lob aussprechen. Man kann noch so viele Dokus im Fernsehen anschauen – bevor ich einen Gänsegeier und zwei Mönchsgeier aus nächster Nähe erleben durfte, fand ich diese Vögel hässlich unattraktiv und auch ein bisschen unheimlich. Meine Meinung hat sich dann ganz schnell geändert. Geier, egal welcher Art, sind schräg, witzig und spektakulär. Diese Thermik-Künstler brauchen viel mehr Aufmerksamkeit und Verständnis. Und wir brauchen sie.

Danke für das Foto, Nick Kwan