
Ausgrabungsversuche in der Familiengeschichte
Letztes Jahr auf Fyn habe ich versucht, meiner Mutter die ganze Geschichte unserer Verbundenheit mit Dänemark zu entlocken. Denn wirklich durchblickt habe ich das nie. Einerseits wohl, weil ich die entscheidenden Personen nie kennengelernt habe, denn bei Begegnungen mit ihnen war ich noch nicht einmal im Kindergarten. Zum Anderen habe ich aufgehört, mit nach Nyborg zu fahren, als ich alt genug wurde, um echtes Interesse an der Sache zu entwickeln. Oder um die fraglichen Protagonisten doch noch kennen zu lernen.
Die Personen, die ich mit Dänemark verband, waren Inga und Christian. Sie sah ich als Kind und Teenager jedes Jahr für 10 Tage. Bei ihnen wohnten wir, wenn wir am Großen Belt Urlaub machten. Ich wusste, dass schon meine Großeltern mütterlicherseits mit Inga und Christian befreundet gewesen waren (obwohl sie sich irgendwann später verkrachten). Tante Inga hatte außerdem fast denselben Papagei wie meine Oma. Es gab auch eine Tante Ingeborg, die ein paar Häuser von Inga und Christian entfernt in einem heruntergekommenem Haus lebte. Zu ihr unternahmen wir genau einen hastigen Pflichtbesuch pro Urlaub, weil wir uns vor ihren schmutzigen Tellern und Tassen gruselten. Ich wusste auch, dass meine Mutter in Travemünde geboren war, was ja schon fast als Dänemark durchging. Dass mein Opa in Dänemark in Kriegsgefangenschaft gewesen war, hatte ich auch mal aufgeschnappt. Das alles reichte mir als Kind, um eine schlüssige Verbindung herzustellen.
Dass wir außerdem jedes Jahr zu Weihnachten Post von einem Onkel Hans und einer Hanne erhielten, die irgendwo auf dem dänischen Festland lebten, blieb mir nicht verborgen. Aber wer sie genau waren, wurde mir nie erklärt, und da ich sie nicht kannte, habe ich auch nicht weiter gefragt. Das ist eigentlich komisch, denn ich war ein krankhaft neugieriges Kind. Einmal hatte ich Onkel Hans am Telefon, da muss ich ungefähr zehn gewesen sein. Er sprach einigermaßen gut Deutsch, aber ich war trotzdem froh, als ich den Hörer an meine Mutter weitergeben konnte. In dem Alter waren mir alle fremden Männer suspekt.
Dann bekam meine Schwester eines Tages per Post ein Geschenk von einem Christian aus Dänemark, der aber nicht der Christian von Inga und Christian war, sondern wie sich herausstellte, ein alter Freund meiner Mutter, der auf einer Bohrinsel arbeitete. Bei dem ominösen Geschenk handelte es sich um Briefmarken oder so etwas. Genau weiß ich es nicht mehr, nur, dass es ein seltsames Geschenk von mir überhaupt nicht nachvollziehbarem Wert war. Es war umso seltsamer, da meine Schwester diesen Christian genauso wenig kannte wie ich. Ich glaube, ich war damals vor allem eifersüchtig auf so ein überraschendes und mysteriöses Geschenk, weshalb ich nicht genug konstruktive, geistige Energie aufbrachte, um die Hintergründe zu erforschen. Außerdem wurde das Ganze schnell unter den Teppich gekehrt.
Ich hörte erst wieder von Bohrinsel-Christian, als ich meine Mutter letztes Jahr in Dänemark fragte, wie es eigentlich dazu kam, dass unsere Familie jedes Jahr nach Nyborg fuhr. Leider war die Alzheimer-Erkrankung meiner Mutter da bereits recht weit fortgeschritten, so dass nicht alles von dem, was sie mir erzählte, Sinn ergab. Sie verwechselte Namen, verdrehte offensichtlich Zusammenhänge und konnte zeitliche Abfolgen nicht mehr richtig verknüpfen. Und ich habe den Fehler gemacht, nicht sofort aufzuschreiben, was ich an brauchbaren Informationen bekam.
Nichtsdestotrotz war es erhellend. Ich werde zwar nie sämtliche Puzzleteile zusammensetzen können, aber ich lernte, dass alles schon vor mehr als 100 Jahren mit einer jungen Dänin begann, die nicht nur ausgesprochen reiselustig war, sondern auch ihrer Zeit weit voraus. Dank ihr habe ich tatsächlich ein paar dänische Gene. Und ich weiß nun, welche entscheidende Rolle Onkel Hans dabei spielte, der zugleich Lehrer für Gebärdensprache, Reiseleiter und Womanizer war. Ein notorischer Fremdgänger, überall beliebt, nur irgendwann dann nicht mehr so sehr bei seiner Frau, die ich als Tante Ingeborg kannte. Ich weiß inzwischen auch, dass es mich (und meine Schwester) fast nicht gegeben hätte, denn es schien vom Schicksal bestimmt, dass meine Mutter Bohrinsel-Christian heiraten würde, der damals noch Bäckerlehrling war. Sie trennten sich, warum auch immer, aber freundschaftlich, und beinahe wäre Christian Taufpate meiner Schwester geworden. Allein die Entfernung und die Grenze sprach dagegen. Warum die noch eine Weile anhaltende Brieffreundschaft zwischen meiner Mutter und ihm abriss, lag entweder an meinem Vater oder an einem Alkoholproblem.
Ich würde zu gerne die Lücken füllen können. Aber auch die Bruchstücke reichen bereits, um zu wissen, was für ein reiches Leben meine Mutter hatte, lange bevor ich existierte. Es ist ein so komplett anderes Leben gewesen als das, was ich von ihr zu sehen bekam. Das fühlt sich wahrscheinlich für jedes Kind ein bisschen seltsam an. Doch jetzt, da meine Mutter immer mehr dahinschwindet, ist es ein unglaublicher Trost. Und ich finde es auch irgendwie schön, dass sie ein paar ungelöste Rätsel zurücklassen wird.

