Wenn die Zeit abläuft
Grimoire

Abschiedsmonologe

Etwas, das sich mir in den letzten, schwierigen Tagen eingeprägt hat, möchte ich noch aufschreiben, obwohl es wahrscheinlich pathetisch und abgedroschen klingt. Aber manches kann man nicht oft genug sagen.

Die Dinge, die Todgeweihte auf dem Sterbebett sagen, werden gerne zitiert und besonders hervor gehoben. Es gibt viele Artikel darüber. Listen über die am häufigsten bedauerten Versäumnisse und am meisten unterschätzten Lebensweisheiten und so weiter. Meine Mutter hat in ihren letzten Tagen nicht mehr sprechen können, und so waren es meine Schwester und ich, die redeten, mit zunehmender Dringlichkeit, und hofften, dass möglichst viel davon noch ankam.

Ich kann nur für mich sprechen, aber mir ist aufgefallen, dass ich zwischen all dem Erwartbaren mit Überzeugungen um die Ecke kam, die mir zuvor gar nicht richtig bewusst waren. Dinge, die man wahrscheinlich normalerweise nicht nur dem Rest der Welt, sondern auch sich selbst verschweigt. So wie das typische Klischee heimlicher Liebe. Oder eben auch Ansichten über das Leben und den Tod, die aus diversen Gründen nicht gerade populär, aber möglicherweise von größerer Bedeutung sind, als man ahnt. Außerdem sind Erinnerungen hoch gespült worden, von denen mir nicht klar war, wie „heilig“ sie mir sind.

Warum sind wir Menschen so? Warum haben wir solche Schwierigkeiten damit, das Wichtige von dem weniger Wichtigen zu trennen? Warum befassen wir uns so gerne mit Irrelevantem und schieben Entscheidendes bis zum letzten Moment vor uns her? Immer wieder lassen wir zu, dass uns der Alltag auffrisst. Selbst wenn man regelmäßig meditiert, Yoga macht oder andere Rituale zum Erden hat – ist das nicht meistens das Erste, das man schleifen lässt, wenn der Zeitdruck steigt? Obwohl genau das Gegenteil sinnvoll wäre?

Das sollte man vielleicht nicht so ausdrücken, aber im Nachhinein empfinde ich das Abschiednehmen von meiner Mutter ein wenig wie eine Therapiesitzung. – Oh Gott, das klingt wirklich furchtbar. Aber letztlich hatte es etwas davon. Und wenn es noch eine Lehre gibt, die ich aus den letzten Monaten mit meiner Mutter gelernt habe, dann ist es das: Lasst euch um Himmels Willen so früh wie möglich therapieren, wenn es irgendeine, vermeintlich noch so kleine Baustelle gibt! Schiebt all diese Dinge, die ausgesprochen und benannt, mitgeteilt und bereinigt werden wollen, nicht auf die lange Bank, bis es irgendwann zu spät ist. (Und „zu spät“ ist keineswegs immer der Tod, sondern eventuell schon viele Jahre davor eine Krankheit wie Demenz, die heutzutage jede dritte Frau ab 60 trifft.) Ein langer Abschied mag schwer und sehr schmerzhaft sein, aber er ist auch eine wertvolle Gelegenheit, die nicht jeder bekommt.

Sagt, macht, tut alles Wichtige so früh wie möglich! Ich weiß nicht, warum das so wenigen gelingt, obwohl man es immer wieder hört und liest. Ich werde wahrscheinlich auch schon morgen wieder eine Priorität 1 zu einer Priorität 13 machen, wider besseres Wissen und mit ein bisschen Bauchschmerzen und Kopfweh am Wochenende. Schuld ist dann wie immer das Wetter.

Danke für das Foto, Nathan Dumlao